Helmut Hofmanns Abschiedskonzert mit Schuberts „Winterreise“

Mit Helmut Hofmann hat sich ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Musiker vom Konzertpodium verabschiedet. Ein würdigerer Beschluss seiner Pianistenlaufbahn als jene Aufführung der Winterreise im Saal der Musikschule von St. Andrä-Wördern, die Hofmann gemeinsam mit dem Bariton Günter Haumer am 13. April 2024 ins Werk setzte, ließe sich schwerlich denken, kam doch mit Franz Schubert derjenige Komponist zu Wort, dessen Schaffen seit einem Vierteljahrhundert im Zentrum der musikwissenschaftlichen Arbeit Hofmanns steht.

Der 1934 geborene Helmut Hofmann ist ein Mann mit vielen Talenten und Interessen. An der Wiener Musikakademie von einer Reihe bedeutender Lehrer – darunter Alfred Uhl, Otto Schulhof, Erwin Ratz und Josef Mertin – umfassend ausgebildet, entschied er sich nicht für die Musik als Brotberuf, sondern wurde Jurist und arbeitete im Bankenwesen. Auch war er lange Jahre als Sportfunktionär in der Wiener Leichtathletik tätig. Als Pianist gab er Konzerte in seiner österreichischen Heimat, außerdem in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Italien. 2001 erschien sein Buch Franz Schubert: Das Zeitmaß in seinem Klavierwerk in der Edition Text+Kritik als Band 114 der Reihe Musik-Konzepte.

Wer sich in St. Andrä-Wördern – einige Kilometer donauaufwärts von Wien – eingefunden hatte, konnte sich nicht nur davon überzeugen, wie tief Hofmann in Schuberts Liedschaffen eingedrungen ist, sondern auch, mit welchem Feingefühl er die Rolle des Begleiters ausfüllt. Günter Hauners kraftvolle, lyrische Baritonstimme stand durchweg im Zentrum des Geschehens. Nie hatte man das Gefühl, der Pianist nehme sich gegenüber seinem Sänger mehr als eine begleitende Funktion heraus. Hofmann versteht es, präsent zu bleiben, ohne zu forcieren. Er bildet immer „nur“ den Hintergrund für den Gesang, aber in diesem Hintergrund ist, ohne sich aufzudrängen, alles da, was zu hören sein muss. Wie schön bewahrheitet sich in dieser Wiedergabe Donald Toveys auf Schubert gemünztes Wort, dass ein guter Kontrapunktiker einer ist, der gute Bässe schreibt! Die Dialoge des Klaviers mit der Singstimme kommen ebenso trefflich zur Geltung wie die Dialoge innerhalb des Klaviersatzes. Auch wie Hofmann den Anschlag variiert, muß man loben. So gelingen ihm nicht nur starke Kontraste wie im Frühlingstraum oder zwischen den beiden vorletzten Liedern Mut (sehr hart) und Die Nebensonnen (sanft, aber völlig unsentimental), sondern auch Darstellungen seltsamer Mischzustände, wie sie der Dichter Wilhelm Müller durch die Gegenüberstellung flüssigen und gefrorenen Wassers andeutet. In Gefrorene Tränen und Auf dem Flusse meint man tatsächlich, inneren Erstarrungsprozessen zuzuhören. Die Musik klingt hier kantig, widerspenstig, und verliert doch nicht einen Rest von Leichtigkeit, der sie weiter fließen lässt.

Feinsinnig und mit echter Hingabe führen Haumer und Hofmann durch die Abgründe dieses düstersten Werkes der Liedliteratur. Nach Verklingen der letzten Töne des Leiermanns verriet ein Moment der Stille deutlich die Ergriffenheit der Zuhörer, bevor sie den Künstlern ihren verdienten Applaus zu Teil werden ließen.

Wenn Helmut Hofmann sich nun vom Konzertpodium zurückzieht, so wünscht man ihm umso mehr ein gutes Vorankommen bei seinen wissenschaftlichen Forschungen. Eine groß angelegte Studie über die Interpretation der Schubertschen Instrumentalmusik, Frucht 20-jähriger Arbeit, steht, wie man dem Programmheft des Liederabends entnimmt, kurz vor ihrer Vollendung.

[Norbert Florian Schuck, April 2024]

Das BRSO feiert sein 75-jähriges Bestehen mit Schönbergs „Gurre-Liedern“

Mit einem Galakonzert feierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 19. April in der Münchner Isarphilharmonie sein 75-jähriges Bestehen. Wie schon zum 60. Jubiläum 2009 spielte man zu diesem Anlass Arnold Schönbergs (18741951) „Gurre-Lieder“, diesmal freilich unter Leitung von Sir Simon Rattle. Zum immensen Aufgebot im Orchester gesellten sich dazu noch der Chor des Bayerischen Rundfunks, der MDR-Rundfunkchor sowie sechs Solisten – insgesamt ca. 280 Mitwirkende. Unser Rezensent besuchte die zweite Aufführung – nun ein „normales“ Abo-Konzert – am 20. April.

Applaus für die Mitwirkenden der Aufführung vom 19. April 2024 © BR Astrid Ackermann

„Wie sich die Bilder gleichen“, stellt man zunächst verwundert fest, weil das BRSO anlässlich seines 75. Geburtstags dasselbe Stück ausgewählt hat wie bereits zum 60. Jubiläum – damals unter der Leitung von Mariss Jansons in der Gasteig-Philharmonie. Doch erstens rechtfertigt dies der anstehende 150. Geburtstag des Komponisten Arnold Schönberg am 13. September – dieses Jahr häufen sich die runden Klassik-Events, da ist Bruckner nur einer von vielen. Und natürlich benötigt der immense Aufwand für dessen Gurre-Lieder eigentlich immer einen besonderen Aufhänger, um überhaupt eine Aufführung zu realisieren. Diese Besprechung soll auch keinen direkten Vergleich von Jansons‘ und Sir Simon Rattles Darbietungen liefern, obwohl sich ihre Auffassungen von dieser gewaltigen Kantate nicht unerheblich unterscheiden.

Nicht nur die Bühne – die für das gigantische Orchesteraufgebot mit beispielsweise 8 Flöten, 7 Klarinetten, 10 Hörnern usw. sogar vorne noch einen „Anbau“ erfordert – ist an diesem Abend rappelvoll, sondern ebenso der Zuschauerraum: Beide Vorstellungen waren seit Wochen restlos ausverkauft. Und das Münchner Abo-Publikum muss man für sein Vertrauen loben, sich 110 Minuten reinen Schönberg anzutun, der hier über weite Strecken entgegen sicher mancher Befürchtungen unerfahrenerer Hörer noch ganz wie Wagner oder Richard Strauss klingt. Der Aufwand, in jeder Instrumentenfamilie quasi über den kompletten Tonumfang und entsprechendes Klangvolumen zu verfügen, dient im ersten Teil dazu, den üblichen spätromantischen Mischklängen – Musterbeispiel etwa Brahms – sehr reine Klänge selbst bei komplexeren Akkorden entgegenzusetzen. Durch das dichte, polyphone Stimmengeflecht entstehen so einerseits unglaublich neuartige Klangflächen, andererseits enorm individuelle Mischungen, wie man sie 1900 – da begann Schönberg bereits mit der Instrumentation – noch nicht mal von R. Strauss gehört hatte.

Gerade bei den Naturstimmungen evozierenden Klangflächen gleich zu Beginn agiert Rattle an diesem Abend ein wenig tranig, was rhythmischer Klarheit nicht unbedingt förderlich, vielleicht jedoch bewusst so gewollt ist. Dem Rezensenten schien die Aufnahme vom Vortag, die gleich nach dem zweiten Konzert im BR-Fernsehen zu sehen war, im gesamten Ersten Teil der Kantate spürbar flüssiger. Möglicherweise kann der Dirigent durch die ruhigeren Tempi dadurch den Sängern – an zwei aufeinander folgenden Tagen sind solche Partien eine echte tour de force – stellenweise helfen, ihre Stimmen ein wenig zu schonen. So bleibt jedoch ein wichtiger Aspekt dieser Musik, der schon in Alban Bergs umfänglicher Analyse zur Sprache kommt, auf der Strecke. Zwar gelingt es Rattle über das ganze Stück, die leitmotivische Bedeutung der zahlreichen Themen adäquat mit dem nötigen Wiedererkennungswert zu gestalten; dass es sich aber bei den neun Wechselgesängen zwischen Waldemar (Simon O’Neill) und Tove (Dorothea Röschmann) formal um echte Lieder handelt, geht schon dadurch etwas verloren, weil Rattle die spezifische Charakteristik der einzelnen Melodien nicht genug herausarbeitet und zu rasch im allgemeinen Stimmengewirr untergehen lässt. Dass Schönberg die jeweiligen Hauptmelodien in den Zwischenspielen zudem – in der Informatik würde man das Morphing nennen – ineinander verwandelt, bleibt unklar. Das wird im – freilich eindeutig symphonischeren – Lied der Waldtaube (Jamie Barton) dann zum Glück viel besser.

Röschmanns Stimme kann die naturverbundene Jugendlichkeit Toves berührend herüberbringen, kommt jedoch nur in der Höhe wirklich übers Orchester. Ihre empathische Ausdrucksstärke ist dafür Weltklasse. O’Neill artikuliert klangschön und stilvoll, in tieferer Lage wirkt er ein wenig knödelig. Seine Darstellung der sich ständig wandelnden psychischen Befindlichkeiten Waldemars überzeugt gleichermaßen. Gegen das Orchester hat er allerdings – wie wohl alle Heldentenöre, die sich an diese Partie herangewagt haben – oft keine Chance. Er teilt sich seine Kraft gut ein und vermag gerade im zweiten („Herrgott, weißt du, was du tatest [?]“) und dritten Teil („Du strenger Richter droben“) das Publikum zu Recht zu begeistern – und: Höhe hat der Mann! Barton verfügt über eine untadelige Diktion und Wärme. Auch ihre Stimme erscheint im HP8 bei dieser Mezzo-Paraderolle etwas dünn, wird erst ab „Den Sarg sah ich auf des Königs Schultern“ glaubwürdig unheimlich, gerät später („Wollt ein Mönch…“) zu brustig. Das ginge sicher in anderen Sälen besser.

Bei diesem Riesenwerk wird einmal mehr deutlich, dass der HP8 zwar eine ordentliche Interimslösung ist, jedoch seine Schwächen nicht wegzudiskutieren sind. Simon Rattle wird auch an den lauten Stellen niemals knallig, jedoch haben wichtige Höhepunkte – namentlich der im Orchester prägnant dargestellte Todesstoß für Tove [Ziffer 95] – zu wenig Durchschlagskraft, einzig der Akustik geschuldet. Und die Eisenketten während des Männerchors von Waldemars Mannen sind kaum zu hören.

Nach der Pause kommen dann zusätzlich der Chor des Bayerischen Rundfunks und der MDR-Rundfunkchor auf die Bühne – gut 70 Herren und ca. 40 Damen; letztere werden nur im Schlusschor benötigt. Einstudiert von Peter Dijkstra liefern insbesondere die Herrenchöre – in der brutalen „Zombie“-Szene „Gegrüßt, o König“ sind sie dreigeteilt, also zwölfstimmig (!) – wahre Glanzleistungen ab. Besonderes Lob gilt der wunderbaren, intonatorisch perfekten Realisierung des intrikat schweren Chores „Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht“. Die Damen setzen dem Ganzen später die Krone auf.

Der Bauer von Josef Wagner ist mir anfangs zu unbeteiligt, dann ab dem lyrischeren Abschnitt „Ich schlage drei heilige Kreuze“ beseelter. Wirklich den Vogel ab („Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal“) schießt bei den Solisten der Charaktertenor Peter Hoare. Wie so mancher Fachkollege mit einem speziellen Timbre begünstigt, braucht er bei der scherzomäßigen Arie des Klaus-Narr nicht gegen das Orchester zu kämpfen, das den hierbei kurz aufblitzenden Strauss’schen Humor ebenfalls besonders zu mögen scheint – herrlich. Im letzten Abschnitt – hier merkt man, dass sich Schönbergs Orchestersprache und sein harmonisches Verständnis in den zehn Jahren bis zur endgültigen Fertigstellung der Gurre-Lieder spürbar gewandelt hat – benötigt man einen Sprecher mit beinahe prophetischer Überzeugungskraft: Die hat der fabelhafte Thomas Quasthoff bei Des Sommerwindes wilde Jagd zweifellos. Absolut faszinierend, wie er – nicht ganz ohne Ironie, aber die gegen Schluss arg blumige Sprache komplett ernstnehmend – das vorherige symbolistische Drama in ein selbstverständliches Naturereignis umzumünzen versteht, wo die Sonne für stetige Erneuerung sorgt. Rattle und sein Orchester blühen in der zweiten Hälfte nun völlig auf: Die gewaltigen Chorszenen genau wie der viel kammermusikalischer geprägte Schlussteil gelingen überaus differenziert und anrührend, werden so den hohen Ansprüchen von Publikum und Musikern gleichermaßen gerecht – grandioser Beifall und schließlich Standing Ovations.

[Martin Blaumeiser, 21. April 2024]

Beglückender Abend des BRSO unter François-Xavier Roth bei der musica viva

Antoine Tamestit und François-Xavier Roth © Severin Vogl

Im Konzert der musica viva am 12. April 2024 im Münchner Herkulessaal spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth die Uraufführung des Bratschenkonzerts von Francesco Filidei (Solist: Antoine Tamestit), „Cloudline“ der US-Amerikanerin Elizabeth Ogonek sowie Iannis Xenakis‘ unglaublich herausforderndes Werk „Aïs“ – mit dem Bariton Georg Nigl und dem Schlagzeuger Dirk Rothbrust. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös hatte man dessen Stück „Sirens’ Song“ zusätzlich aufs Programm gesetzt.

Im März 2024 haben wir innerhalb von nur elf Tagen gleich drei echte Weltstars der Neuen Musik verloren: Aribert Reimann, Maurizio Pollini, und am 24. 3. den Ungarn Peter Eötvös (Jahrgang 1944). Der war als Komponist bereits 1980 mit einem Kammermusikwerk bei der musica viva vertreten, hat dann ab 1989 regelmäßig das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für dieses Format geleitet und dabei Musiker wie Publikum stets begeistert. 2019 war ein komplettes Programm Eötvös‘ eigener Musik gewidmet (wir berichteten). Grund genug, nach einer empathischen Würdigung durch Winrich Hopp und einer Schweigeminute eines seiner letzten Orchesterwerke – Sirens‘ Song von 2020 – erklingen zu lassen.

Schon hier spürt man, dass François-Xavier Roth und das BRSO einen großen Abend haben. Tatsächlich ist das Stück für mittelgroßes Orchester, in dem der Komponist versucht „hörbar zu machen, was Odysseus niemals zu Gehör bekommen hat“ (Eötvös) rhythmisch relativ simpel gestrickt. Harmonisch bilden zunächst Quint- und Tritonus-Schichten die Basis für liebreizende, zugleich ungreifbare Glissandi und wunderbare Bläser-Klangmischungen. Später kommen – von den Bässen ausgehend – Quartschichtungen hinzu; da wird’s schon gefährlicher – und die Bläser mutieren zu „Killervögeln mit Frauenköpfen“. Die Streicher ziehen die Zuhörer jedoch nach und nach in den Abgrund – fast unmerklich, ohne dass es laut würde. In einer kurzen Coda – quasi Dur – bleibt nur das sonnendurchflutete, ruhige Meer: hübsche, völlig nachvollziehbare Musik, die mit ihrer Schönheit auch das Publikum betört.

Francesco Filidei (*1973), der gerade an einer Oper nach Umberto Ecos Der Name der Rose arbeitet, hat die drei Sätze seines gut halbstündigen Konzerts für Viola und Orchester so ziemlich mit allen technisch-klanglichen Möglichkeiten gespickt, die sich für das – verglichen mit der Violine – solistisch immer noch etwas unterbelichtete Instrument anbieten. Der lange erste Satz Die Gärten von Vilnius ist eine Umarbeitung von Filideis gleichnamigem Cellokonzert. Hierbei bezieht sich der Komponist ausdrücklich beispielsweise auf die Tradition von Ottorino Respighis Tondichtungen. Die Verbindung von struktureller Klarheit – hier u. a. symmetrische bzw. „kreisförmige“, fraktale Motivbildungen – und beeindruckender Instrumentationskunst, etwa der konsequenten Auffächerung von Geräuschen über das totale Klangspektrum, sind wie immer bei ihm völlig faszinierend; ebenso, wie er die Solo-Viola dramaturgisch einsetzt. Der Mittelsatz ist rein humoristisch, sozusagen ein einziger, comic-artig vertonter Bratschenwitz. Antoine Tamestit muss hier auf „metronomische“ Vorgaben der Schlagzeuger Skalen, Flageolets usw. „üben“ – was natürlich schiefläuft. Die halbszenische Solistenpose wird dadurch völlig dekonstruiert: zur Posse. Dasselbe geschieht mit dem Material im Orchester, deutlich erkennbar etwa der C-Dur-Schlussfuge von Verdis Falstaff entnommen; die Einleitungstakte dazu werden – mittendrin – gar wörtlich zitiert. Aberwitzig ironisch erinnert dieses gut getimte Intermezzo den Rezensenten an den Mittelsatz TSIAJ („This Scherzo Is A Joke“) von Charles Ives‘ Klaviertrio. Das melancholische Finale – gegen Schluss erklingen nochmals Fragmente aus den Sätzen zuvor – bietet schließlich Tamestit die Gelegenheit, auf seiner Stradivari zu singen. Hinreißend, wie sich diese erfüllte Präsenz seiner Persönlichkeit auf den fast ausverkauften Herkulessaal überträgt: großer Beifall für ein musikalisch vielschichtiges Konzert.

Obwohl viel kürzer, kann Cloudline (2021) der jungen Amerikanerin Elizabeth Ogonek (*1989) – wie Filidei persönlich anwesend – Publikum wie Rezensent fast noch mehr begeistern. Selten hat man ein derartig natürliches, offenkundiges Gespür erlebt, für Orchester zu schreiben. Einerseits ausgehend von Wolken als Naturphänomen, andererseits dem Wunsch – und für die Uraufführung in der gigantischen Londoner Royal Albert Hall absolute Notwendigkeit –, mikrotonale Multiphonics der Klarinetten für einen größeren Klangkörper regelrecht zu instrumentieren, überzeugt dieses Werk auf ganzer Linie – bis ins Detail sensibelst austariert und im wohlklingenden Ergebnis einfach staunenswert.

Im krassen Gegensatz zu solcher Ästhetik steht Iannis Xenakis‘Aïs“ (= Hades), ein Auftragswerk für die musica viva von 1980 (UA 1981). Diese Auseinandersetzung mit dem Tod verlangt neben dem üblichen Riesenorchester einen Solo-Schlagzeuger – vor dem Orchester platziert und ganz vortrefflich: Dirk Rothbrust. Hauptprotagonist ist allerdings der Bariton, mit einer Partie, die – wie eigentlich das gesamte Stück – eine bewusste Zumutung darstellt. Über weite Strecken in höchster Lage der Kopfstimme, später in unglaublich schnellen Wechseln zwischen extrem tiefer – nur da hat man eine Chance, Textfragmente zu verstehen – und wiederum exponierter Falsettlage, muss sich der Solist sichtbar nicht nur gesangstechnisch, sondern ebenso emotional total verausgaben. Georg Nigl gelingt das einmal mehr überragend. Ob singend, schreiend oder deklamierend: Nigls Gestaltung geht an die Nieren, und er ist wohl der erste Sänger, der hier nicht wie ein unfreiwilliger Kastrat klingt, sondern von Beginn an dunkelste Ernsthaftigkeit zu transportieren vermag. Die leichte, leider suboptimale, da durch die benutzten Monitore zu sehr in die Breite gezogene Verstärkung, ist eher ein notwendiges Übel. Vor solch einem Künstler, der ja mit gleicher Energie einen Eisenstein (Fledermaus) gibt, kann man sich nur verneigen.

Das BRSO, von jeher mit einem verblüffend guten Zugang zur kompakten Musik Xenakis‘, legt diesmal wieder eine echte Glanzleistung hin. Man spürt förmlich die Begeisterung für diese alles andere als leichte Kost. Und Roth leitet das gesamte Konzert – auch er dirigiert ohne Taktstock – handwerklich präzise, hat zudem die unglaubliche Vielfalt verschiedenster Klänge mit klarer Vorstellung verinnerlicht und sie in den Proben seinen Musikern offensichtlich kongenial sehr nahegebracht. Trotz aller Herausforderungen wirkt er auf dem Podium völlig entspannt. In allen vier Werken zeigt das BRSO sich in Bestform, ist wirklich zu 100% souverän bei der Sache. Der Saal belohnt Solisten, Dirigent und Orchester schließlich mit Bravos und ungewohnt langanhaltendem Applaus. Wie gesagt: ein ganz besonderer Abend.

[Martin Blaumeiser, 13. April 2024]

Henzes „Floß der Medusa“ mit Cornelius Meister geht unter die Haut

Capriccio C5482; EAN: 8 4522105482 7

Capriccio hat eine weitere Aufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) Oratorium „Das Floß der Medusa“ veröffentlicht – diesmal live. Unter der Leitung von Cornelius Meister spielen und singen das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Arnold Schoenberg Chor sowie die Wiener Sängerknaben. Die Solisten sind: Sarah Wegener (La Mort), Dietrich Henschel (Jean-Charles) und Sven-Erich Bechtolf (Sprecher/Charon).

Nachdem es um Henzes Oratorium Das Floß der Medusa, dessen geplante Uraufführung Ende 1968 durch einen Polizeieinsatz vereitelt wurde und so den vielleicht größten Konzertskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verursachte, lange still war, sorgte wohl die Flüchtlingskrise im Mittelmeer in den letzten Jahren für eine gewisse Renaissance dieses echten Meisterwerks – bis hin zu szenischen Realisationen (Amsterdam, Berlin). Ende 2019 hatte SWR Classic eine Aufnahme aus der Elbphilharmonie (vom 15.–17. 11. 2017) mit dem kürzlich verstorbenen Dirigenten Peter Eötvös herausgebracht – siehe unsere Kritik mit ein paar näheren Infos zum Werk. Nun gibt es eine weitere – nur zwei Wochen ältere (!) – Einspielung, diesmal live aus dem Wiener Konzerthaus. Capriccio hätte mit dieser Veröffentlichung allerdings nicht sechs Jahre warten müssen: Die Aufführung mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Cornelius Meister liegt auf demselben Niveau wie die des SWR Symphonieorchesters. Das fordert geradezu zum direkten Vergleich heraus. Die Erstaufnahme auf Deutsche Grammophon – der Mitschnitt der Generalprobe von 1968, dirigiert vom Komponisten – fällt nach Meinung des Rezensenten eigentlich in allen Belangen schwächer aus, bleibt als historisch ganz ungewöhnliches Dokument aber weiterhin interessant.

Die Akustik der Elbphilharmonie – sicher nicht jedermanns Sache – kommt Eötvös‘ Streben vor allem nach Durchsichtigkeit dieses riesig besetzten Oratoriums gut entgegen, was aufnahmetechnisch entsprechend eingefangen wurde. Das Wiener Konzerthaus hat bei etwas mehr Hall – wohl nicht zuletzt deswegen braucht Cornelius Meister auch ca. 4½ Minuten länger – gleichzeitig mehr Wärme. Dies kommt gerade den Chören der Lebenden zugute – die anfangs nur von Bläsern begleitet werden. Später wechseln sie ja – bis auf die dann solistisch agierenden 14 Überlebenden – ins von den Streichern dominierte Reich der Toten. Eine erstaunliche Transparenz wird jedoch gleichfalls in Wien erreicht. Die Dynamik über alles scheint dabei hier größer.

Meister zielt ganz bewusst auf Drama – das gelingt über weite Strecken. Die Bemerkung Christoph Bechers im ansonsten ordentlichen Booklet zum unmittelbaren Schluss des Werks, dass Meister sich hier dafür entschied, die ursprüngliche Version sogar zu verstärken, ist allerdings schlicht falsch: Tatsächlich lässt der Dirigent – ebenso wie Eötvös – nach Charons abschließenden Worten „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück[…], fiebernd, sie umzustürzen“ im Orchester Henzes Revision von 1990 spielen, wo der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs melodisch eindringlich umwölkt wird, letzteren zusätzlich noch vom Chor verbatim skandieren. Das steht so in keiner Partitur, sondern reflektiert anscheinend nur die Situation, dass Henze sich seinerzeit als Reaktion auf die gar nicht erst begonnene Uraufführung zusammen mit einigen Studenten auf dem Podium eben dazu hinreißen ließ. Musikalisch widersprüchlich: Die ursprüngliche Fassung enthält zwar nur besagten, reinen Schlagzeug-Rhythmus, wirkt jedoch insbesondere durch die – auch nicht notierte – Beschleunigung in Henzes eigener Einspielung brandgefährlich, wohingegen die revidierte Fassung fast als visionäre Apotheose aufgefasst werden könnte. Beides zugleich ist eher Murks.

Waren schon die Leistungen der Chöre in der SWR-Aufnahme grandios, legen in der Wiener Aufführung der Arnold Schoenberg Chor – unter der erprobten Einstudierung Erwin Ortners – und die Wiener Sängerknaben noch eins drauf. Präzision und Ausdrucksstärke gehen hier derart Hand in Hand, dass man nur andächtig staunen kann. Die Qualitäten der Orchester lassen sich hingegen nicht gegeneinander ausspielen, beide Male absolut überzeugend. Meister wagt es allerdings, viele Details ganz unverfroren naturalistisch zu verstehen: Oft hört man bei seiner Darbietung etwa wirklich Klänge, die unmittelbar das Meer assoziieren usw. Also auch hier noch Hans Werner Henze auf den Spuren Richard Strauss‘? Diesen Vergleich hat der Komponist bekanntlich verabscheut…

Ungeachtet, wie die Rolle des Sprechers/Charons (Sven-Eric Bechtolf) live eingepegelt gewesen sein mag: In der Aufnahme gerät sie mir jedenfalls künstlich viel zu sehr in den Vordergrund. Bechtolf ist abgesehen davon o. k., kommt aber nicht wirklich an Peter Stein heran. Sarah Wegener als La Mort singt stimmlich ausgezeichnet, erscheint allerdings emotional blasser als Camilla Nylund. Dafür begeistert Dietrich Henschel in allen Belangen: Wärme, ergreifende Textausdeutung und intonatorische Treffsicherheit machen ihn zum bisher besten Jean-Charles auf Tonträgern. Dagegen wirkt Peter Schöne über Strecken fast zu artifiziell.

Muss man also eine der 2017er Aufnahmen klar vorziehen? Nein – aber Konkurrenz belebt nun hoffentlich auch für Henzes aufrüttelndes Oratorium das Geschäft. Mehr Dramatik, leichter Vorsprung für die Wiener Chöre und ein herausragender Dietrich Henschel bei Meister; mehr Analytik, stellenweise knackigere Tempi und ein beeindruckender Peter Stein bei Eötvös. Unter die Haut geht das in beiden Fällen und macht Cornelius Meisters Einspielung zumindest zu einer hochwertigen Alternative und unbedingt empfehlenswert.

Vergleichsaufnahmen: Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWR Classic SWR19082CD, 2017); Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, RIAS-Kammerchor, Chor & Orchester des NDR, Hans Werner Henze (Deutsche Grammophon 449 871-2, 1968)

[Martin Blaumeiser, 7. April 2024]

Faust singt Mezzosopran -Louise Bertins Oper „Fausto“ ist eine Entdeckung

Bru Zane, BZ 1054; EAN: 8 055776 01014 4

Im letzten Jahr brachte das Forschungsteam Palazzetto Bru Zane die Anthologie „Compositrices“ heraus – Werke von 21 französischen Komponistinnen umfasst die editorische Großtat, sie ist nichts weniger als ein Streifzug durch die feminine Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Glücklicherweise verfolgen die Spürnasen um Alexandre Dratwicki dieses Projekt weiter und sind dabei auf Louise Bertin gestoßen. Deren Biographie, wenn auch teilweise nur auf Spekulationen beruhend, ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Bertin, 1805 geboren, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Die Eltern – der Vater, Inhaber der angesehenen Zeitung „Journal des débats“, die Mutter, eine begabte Pianistin – förderten die künstlerischen Ambitionen der malenden, dichtenden und musizierenden Tochter. Die Autodidaktin, die wegen einer Kinderlähmung auf Krücken angewiesen war, entschied sich fürs Komponieren und nahm Unterricht bei den Lehrkoryphäen François-Joseph Fétis und Anton Reicha. Bei letzterem lernte sie Berlioz kennen, mit dem sie sich anfreundete und der ihr als Zeichen der Wertschätzung den Gesangszyklus Les nuits d’été widmete.

In einer Zeit, als Frauen in der Regel Werke für den Hausgebrauch oder kleine Besetzungen kreierten, wagte sich Bertin an größere Formate und komponierte immerhin vier Opern. Die letzte jedoch – La Esmeralda nach Victor Hugo – führte 1837 zum frühen Ende ihrer Karriere, bedingt durch Vorwürfe, Berlioz habe ihr bei der Partitur geholfen und die Aufführung sei nur durch familiäre Beziehungen zu Stande gekommen. Infolgedessen mied sie bis zu ihrem Tod 1877 die Öffentlichkeit, publizierte allerdings noch Gedichte.

Gute Kritiken bekam Louise Bertin hingegen für ihren 1831 im Pariser Théâtre-Italien in Starbesetzung uraufgeführten Fausto. Trotzdem wurde er nach drei Vorstellungen abgesetzt und verstummte: bis ihn der Palazzetto Bru Zane 2023 gleich im Dreierpaket wiedererweckte, bei einem Konzert in Paris mit paralleler CD-Einspielung der Urfassung und anschließend szenisch im Aalto-Theater in Essen.

Fausto ist die erste Opernadaption des Goethe-Schauspiels und dass sie von einer Frau komponiert wurde, die auch das französische, für die Gepflogenheiten des Théâtre-Italien ins Italienische übersetzte Libretto verfasste, macht sie zu einer musikgeschichtlichen Besonderheit. Orchestrale Dramatik, romantisches Gefühl und Buffo-Elemente – deswegen die Gattungsbezeichnung „Semiseria“ – sind kennzeichnend für Bertins Vertonung. Einflüsse bedeutender Vorbilder, etwa von Mozart, Weber und Rossini, verbinden sich mit stilistischer Individualität, wie die Wahl eines Mezzosoprans für die Titelpartie (die Premiere sang allerdings ein Tenor), dem weitgehenden Verzicht auf zeittypische Bravour und dem eigenwilligen Finale: keine pompöse Apotheose, sondern nur ein Tam-Tam-Schlag, dann Stille. Der Dirigent Christophe Rousset, der die Rezitative selbst am Klavier begleitet, überträgt seine Begeisterung und Versiertheit in historischer Aufführungspraxis auf die Originalklangformation Les Talens Lyrique und ein erlesenes Ensemble. Karine Deshayes und Karina Gauvin singen Faust und Margarita mit viel Empfindung und Belcantokultur. In den terzenseligen Duetten harmonieren ihre Stimmen aufs Schönste, nur unterscheiden sie sich vom Timbre her kaum. Den Mephisto gibt Ante Jerkunica mit tiefschwarzem, wendigem Bass. Zu einem Kabinettstück gerät seine Szene über die Vielfalt weiblicher Schönheiten, die an Leporellos Registerarie in Don Giovanni erinnert. Einen spektakulären Auftritt legt Nico Darmanin als Valentin hin. In der einzigen explizit virtuosen Rolle brennt der Tenor ein Koloraturenfeuerwerk ab und brilliert mit schneidigen Spitzentönen. Eine dicke Empfehlung also für diesen auch in den Nebenrollen treffend besetzten Fausto, der – wie beim Palazzetto üblich – in einem informativen und schön illustrierten CD-Buch präsentiert wird.

[Karin Coper, April 2024]

Oh Augenblick!

Aldilà Records, ARCD 017; EAN: 9 003643 980174

Mit der Symphonia Momentum hat der Dirigent Christoph Schlüren die CD Quintessence vorgelegt, auf der fünfstimmig angelegte Werke versammelt sind, so die Streichersymphonie Nr. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy, die für Streichorchester eingerichteten Bitten aus Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, bearbeitet von Lucian Beschiu, sowie das Hauptwerk dieser CD, das Streichquintett von Anton Bruckner, für Streichorchester eingerichtet von Christoph Schlüren.

Der ausgiebige, der CD beigegebenen und vom Dirigenten verfassten Text informiert über alle Aspekte der Werke in einer Tiefe, die weit über das gängige hinausgeht; dies verdient besondere Erwähnung, weil wir zunächst lesen, und später hören, wie umfassend die Einsicht von Christoph Schlüren in die Werke, die Gattung des Streichquintetts sowie die Problematik der Bearbeitungen von Kammermusikwerken für Streichorchester ist.

Der größte Eingriff findet da meist durch die Hinzufügung einer Oktave unterhalb des Cellos durch den Kontrabass statt. Die dadurch entstehende Bassoktave erzeugt durch die veränderte Obertonreihe einen neuen Klangreichtum für die oberen Stimmen, der sorgfältig behandelt werden will. Dies ist auf dieser Aufnahme durchweg gut gelungen, auch wenn die untere Oktave manchmal nicht als Klangeinheit, sondern als zwei parallele Klänge erscheint, was dem Gesamtklang hier und da etwas Wärme, also möglichen Reichtum, nimmt. Ansonsten wurden die Stimmen in ihren üblichen Proportionen zueinander hervorragend besetzt. Letztlich ist dieses Detail jedoch nicht entscheidend für die Beurteilung dieser Aufnahme, da der Klang, wie er eigentlich war, im Nachhinein ohnehin nur unzureichend beurteilt werden kann – eine Aufnahme ist und bleibt eben eine Art Photographie eines musikalischen Ereignisses, das einmal stattgefunden hat.

Wenden wir uns also den wirklich wesentlichen Dingen zu, für die im Booklet mit einem Zitat von Werner Oehlmann zum Werk „Bitten“ anlässlich dessen Uraufführung im Jahr 1975 folgende Worte zu lesen sind:

Unsere Musik ist säkularisiert, sie beschäftigt sich mit den Realitäten der Erde, den Leiden der Menschheit, den Fragen der Gesellschaft, mit der Not, Angst und Hässlichkeit des Lebens, dem der Tod ein Ende setzt. Hier klingt ein anderer Ton… Diese Musik leistet, was die eigenste … Aufgabe der Musik ist: sie verbürgt die Wirklichkeit der Transzendenz.

Wenn man die vorliegende Aufnahme im Ganzen mit wenigen Worten charakterisieren möchte, so durch diese. Denn zum Gelingen der Wiedergabe von Musik gehört nach der spezifischen Qualität einer Komposition die entsprechende Ausführung, nenne man sie adaequat, kongenial oder finde man noch eine andere Bezeichnung, es tut nichts zur Sache: diese Aufnahme leistet die Verwirklichung der zu Gehör gebrachten Partituren.

Sie tut dies, gleichwohl, hier und da auf eigenwillige Weise. Der klar strukturierte Kontrapunkt bei Mendelssohn lässt wohl etwas Wärme vermissen, jedoch in keinem Augenblick die Klarheit der Stimmführung, und die Artikulation der Einleitung bedient sich in der Tongebung etwas zu sehr an der Manier der Alte-Musik-Praxis. Die Akustik des Raumes tut ihr Übriges, es durchweht die gesamte Aufnahme eine Kühle, die diese Ästhetik stärker hervortreten lässt als notwendig, da sie die bestechende Eigentlichkeit der Darbietung stellenweise in den Hintergrund treten lässt, obwohl diese eine geistige Präsenz besitzt, wie man sie sich nur wünschen kann.

Das berückend schöne und innerliche Werk Bitten aus Über die Schwelle ist eigentlich ein Chorsatz, eine Motette, deren Tonsatz hier ohne den Text wirken muss, was auch vortrefflich gelingt – oder besser gesagt: zutiefst gelingt angesichts der inneren Ruhe und Tiefe dieses einzigartig-eigentümlichen Werkes und seiner Ausführung. Schwarz-Schilling ist aus dem Kaminski-Kreis der durch innere Schönheit seines Werkes hervorstechende Komponist und ein weiteres der unzähligen beklagenswerten Beispiele für eine musikalische Epoche, die durch die kulturelle Weltkatastrophe der Nazi-Zeit und des 2. Weltkrieges nicht zu ihrer vollen Blüte und Entfaltung kommen konnte.

(Dem Dirigenten Christoph Schlüren ist hier, das sei nebenbei angemerkt, vieles an Wiederentdeckung und Erhellung zu verdanken, er gräbt tief und schaufelt mit viel Elan die jungen Vergessensschichten über Kompositionen hinweg, über die die eiligen Zeiten hinweggestürmt sind; wie dies im Übrigen auch Intendanzen und Dirigenten der institutionalisierten Orchester machen sollten. Es ist zweifellos ein ungeheures Manko im Konzertbetrieb, denn das Publikum unbekannte Werke auf diesem Niveau entdecken zu lassen wäre eine ernstzunehmende Alternative zur fortschreitenden Popularisierung des ewigen Kanons der Symphonik und seiner Protagonistinnen und Protagonisten).

Das Herz dieser Aufnahme ist nun das monumentale Streichquintett von Anton Bruckner. Vorweggenommen, gelingt diese Darstellung des Werkes im Ganzen auf schönste Weise, so dass sich die symphonische Dimension des Werkes entfaltet. Christoph Schlüren wählt im sehr gelungenen ersten Satz ein ruhiges Tempo wie vorgegeben, klanglich transparent und im Ausdruck innig, der Augenblick so schön wie der musikalische ruhig dahinfließende Fluss, und auch wenn er ein eingezeichnetes „Langsam“ einmal übergeht, und auch einmal eine Pausenfermate etwas zu lange hält, ein späteres „Langsamer“ nicht ganz organisch entstehen lässt, ist die Entwicklung des inneren Dramas der Musik konsistent und lässt die Form des Satzes entstehen, getragen von der Schönheit des Augenblicks und von einer nahezu perfekt intonierenden Symphonia Momentum.

Was im ersten Satz noch gut funktioniert, erweist sich im zweiten Satz, dem Scherzo, als nicht so förderlich. Von Bruckner mit „Schnell“ überschrieben, wählt Schlüren ein sehr gemächliches Ländler-Tempo, das an sich seinen Charme hat und hier und da ein wenig Dvorak’sche Farben aufscheinen lässt, die man dort eigentlich nicht vermutet hätte. Der Kontrast zum zweiten Gedanken des Satzes, „quasi Andante“ überschrieben, fällt dadurch weniger stark aus, als dies möglich und wünschenswert wäre – auch in der 5. Symphonie von Bruckner gibt es einen solchen formbildenden Tempokontrast im Scherzo; erscheint er jedoch so zart aus wie bei dieser Aufnahme, bleibt die Musik abermals mehr dem schönen Augenblick verhaftet, anstatt eine symphonische Perspektive, die alle vorgeschriebenen Tempoveränderungen berücksichtigt, in diesem Satz zu fördern. Scherzi dieser Art sind jedoch, wie auch gewisse Menuette von Haydn, durchaus elastisch und verschiedenen Tempoauffassungen zugänglich, wie eine berühmte Anekdote aus dessen Leben belegt, als er eine Gruppe von Wirtshausmusikern in der Frage eines Menuett-Tempos mit den Worten beruhigte: „Wenn man danach tanzen kann, ist es auch gut“. Aber nochmals: die gewählte Tempodisposition steht zwar der Geschlossenheit der Gesamterscheinung des Satzes im Wege, nicht aber der augenblicksverhafteten Schönheit des Musizierens, und das ist auch etwas.

Ist das Streichquintett von Bruckner das Herz dieser Veröffentlichung, so ist das Adagio das Herz des Quintetts. Nicht umsonst ist dieser Satz, der die Kammermusik auf wirklich symphonische Dimensionen hebt, schon immer der gewesen, der aus dem Verbund der anderen Sätze gelöst wurde und als Streichorchesterstück für sich alleine stehen kann.

Was wir von langsamen Sätzen der Symphonien von Bruckner lieben, ist auch in diesem Satz vorhanden. Diese Liebe ist dem Dirigat von Christoph Schlüren anzumerken, sein Sinn für Breite im Tempo, der Wille zu zelebrierter Langsamkeit entfaltet sich hier auf das Schönste, die Geduld, die es braucht, die einzelnen Phrasen und musikalischen Gedanken sich entwickeln zu lassen, ist vorbildhaft, da hier das langsame Tempo sehr natürlich schreitet. Ein wenig ist aber auch hier der Wunsch Vater des Gedankens, als am Beginn der Wille zum langsamen Tempo per se obsiegt über das Wunder, das entstünde, wenn das Tempo am Beginn nur eine Spur fließender wäre. Man möge den Rezensenten des Beckmessertums zeihen, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass es keinen musikalischen Grund außer dem der nur zu verständlichen Verliebtheit in die möglichst breite Langsamkeit an sich gibt, das erste Thema bei seinem ersten Erscheinen in einem sehr langsamen Tempo zu spielen und bei der Rückkehr des Themas (könträr zur Angabe „früheres Zeitmaß“) deutlich fließender. Hier gibt es eine fehlende Konsistenz, deren Richtigstellung vielleicht eine Überraschung verbergen würde, nämlich die Einheit der musikalischen Bewegung des ganzen Satzes wie er von Bruckner als Ganzes geschaffen wurde.

Schlüren schafft allerdings das Kunststück, mittels abermals großer Schönheit und Konzentation im musikalischen Moment, und wie in allen anderen Sätzen mittels Klarheit der Stimmführung, über diese kaum merklich fehlende Kohärenz hinwegzuhelfen, wofür ihm ein Kompliment nicht verwehrt werden kann.

Welche leisen Unstimmigkeiten die vorherigen Sätze denn auch gehabt haben mögen, sind von solchen fast keine mehr im Finale zu finden. Die Verhältnisse der Themen und Stimmen zueinander, in Ausdruck und Klarheit, im Atem der Bewegung, im im höchsten Grade einfachen und direkten Musizieren der Stimmen miteinander, erscheinen wie sie kaum logischer und klarer denkbar sind. Warum aber am Ende einer offen bleibenden Phrase aus drei Vierteln Pause eine Kunstpause, ja eine Fermate machen? Es unterbricht den Fluss, der im Finale doch noch selbstverständlicher strömt als in den vorherigen Sätzen, wo man als Hörer ansonsten beglückt daran teilhaben kann, dass Orchester, Dirigent und Komponist in Meisterschaft zu einer vollkommenen Einheit gefunden haben.

Es wäre interessant, wenn ein dirigentischer Kopf vom Niveau von Christoph Schlüren auf diese ganz kleinen persönlichen Freiheiten verzichtete – ob das Ergebnis dann nicht noch schöner und noch richtiger wäre? Denn schön und richtig ist es, was wir auf dieser Aufnahme hören dürfen. Denn hier klingt ein anderer Ton.

[Jacques W. Gebest, April 2024]

Anmerkung der Redaktion: Hier geht es zur Besprechung des Konzerts, das auf der CD festgehalten wurde.

Ein Musizieren von edelster Art: Beth Levin spielt Mozart, Tiessen und Schubert in Wien

Am 22. März 2024 beendete Beth Levin mit einem Konzert im Bank Austria Salon des Alten Rathauses zu Wien ihre Mitteleuropa-Tournee, die sie am 12. des Monats nach Berlin und am 19. nach München geführt hatte (zum Berliner Konzert siehe den Bericht von Sara Blatt). Das Programm war in Wien dasselbe wie bei den Auftritten in Deutschland. Es begann mit Wolfgang Amadé Mozarts Sonate a-Moll KV 310 und endete mit Franz Schuberts Sonate G-Dur D 894. Ähnlich wie auf den Alben, die die Pianistin für Aldilà Records (Inward Voice, Hammerklavier live) und Navona Records (Personae, Bright Circle) eingespielt hat, kombinierte sie eine Repertoire-Erweiterung mit den beiden Klassikern. Allerdings handelte es sich dieses Mal – anders als bei den auf den genannten CDs zu hörenden Werken von Anders Eliasson und David Del Tredici – nicht um zeitgenössische Musik, sondern um ein lange verschollenes, erst vor kurzer Zeit wiederentdecktes Werk: Die Fünf Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen entstanden 1915 und wurden im folgenden Jahr durch Tiessens Schüler Eduard Erdmann erstmals öffentlich gespielt. Was dann mit ihnen geschah, ist unklar. Wahrscheinlich verschwand das Manuskript durch unglückliche Umstände aus dem Gesichtskreis des Komponisten, sodass er annehmen musste, es sei verloren. Er vergab die Opuszahl 21 neu und wies sie dem Rondo G-Dur, der Orchesterfassung des Finales seines Amsel-Septetts op. 20, zu. Nur Die Amsel, das vierte Stück des ursprünglichen op. 21, tauchte noch einmal auf: 1923 erschien als Nr. 2 der Drei Klavierstücke op. 31 eine Neufassung, die sich so deutlich von der ursprünglichen Gestalt unterscheidet, dass man geneigt ist, eine Rekonstruktion aus dem Gedächtnis anzunehmen. Letztlich kamen die Klavierstücke op. 21 im Jahr 2019 wieder zum Vorschein. Der Sammler und Verleger Tobias Bröker hatte das Manuskript aus einem Nachlass erworben, es mit einem Notenschreibprogramm transkribiert und auf seiner Internet-Seite zum kostenlosen Herunterladen bereitgestellt.

Aufbauend auf der Harmonik des mittleren Richard Strauss und des frühen Arnold Schönberg fand Heinz Tiessen in den 1910er Jahren zu einem expressiven Kompositionsstil, der sich weitgehend abseits herkömmlicher Kadenzformeln bewegt, jedoch an der Tonalität als Zusammenhang stiftendem Grundgestaltungsmittel konsequent festhält. Die Klavierstücke op. 21 gehören zu den ersten Werken des Komponisten, in denen diese Ausdrucksweise zu voller Reife entwickelt erscheint. Hinter dem neutralen Titel verbirgt sich eine Satzfolge, deren einzelne Nummern durchaus als zusammengehörige Teile eines Ganzen erscheinen. Der erste Satz ist entsprechend als „Vorspiel“, der letzte als „Finale“ bezeichnet. Mit seinen wuchtigen Eingangs- und Schlussakkorden und den registerartigen Klangabstufungen wirkt das Vorspiel wie ein Orgelpräludium. Die an zweiter Stelle stehend Elegie und das ihr folgende Intermezzo sind bei langsamem Grundtempo von wellenartigen Bewegungen durchzogen. Die Harmonien flackern unruhig wie Mondlicht auf nächtlichem Meere. Anzunehmen, dass der gebürtige Königsberger Tiessen bei der Komposition dieser Stücke an die Ostsee dachte, erscheint nicht abwegig, da er in seiner kurz zuvor entstandenen Natur-Trilogie op. 18, einer dreisätzigen Tondichtung für Klavier, ganz ähnliche Stimmungen in Töne gefasst hat. Im vierten Stück, der bereits erwähnten Amsel, verarbeitet der Komponist originale Amselrufe zu einer schalkhaften, kapriziösen Musik, die sich deutlich von der Schwerblütigkeit der ersten drei Stücke abhebt. Das Finale ist der ausgedehnteste Satz des Werkes. Die Vortragsanweisung „Leidenschaftlich bewegt“ bedeutet nicht zwangsläufig „schnell“. Es ist kein agiles Finale nach Art klassischer Sonaten, sondern gleicht in seinem Duktus, wie auch im zweimaligen Wechsel emphatisch aufbrausender mit bedächtiger, ruhigerer Musik einer Rede in Tönen. Bekenntnishaft schließt sie im dreifachen Forte.

Eduard Erdmann hat einst das Klavier eine „unmögliche Maschine“ genannt, „zusammengesetzt aus Elfenbein, Holz, Filz, Draht und Stahl“, auf der „kein echtes Legato, kein Gesang“ möglich sei. Es gehört zu jenen Instrumenten, deren Klangerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme am wenigsten verwandt ist. Mithin fordert es den Spieler durch seine Beschaffenheit dazu heraus, den Klang durch sein Spiel zu transzendieren, im wahrsten Sinne des Wortes „übersteigend“ zu musizieren. Die deklamatorische Melodik der Stücke Tiessens verlangt nach einen langem Atem, ihr orchestral anmutender Tonsatz nach einer feinen Abstufung der Tongebung. Um die Harmonik mit ihren alterierten Akkorden und abrupten Gegenüberstellungen entfernt verwandter Klänge adäquat darzustellen, braucht es einen wachen Sinn für tonale Beziehungen im Großen wie im Kleinen. Die Musik verlangt mithin nach Kantabilität, Farbigkeit und Spannung. Beth Levin ist definitiv die richtige Musikerin, den Stücken dazu zu verhelfen und ihnen neues Leben einzuhauchen.

Levins Spiel besitzt generell einen Zug ins Große, nicht nur hinsichtlich der tendenziell eher breiten Tempi, sondern auch im Bezug auf den Klangfarbenreichtum, den sie hervorzubringen in der Lage ist. Die „unmögliche Maschine“ verwandelt sich unter ihren Händen tatsächlich dergestalt, dass man von einem imaginären Orchester oder Chor sprechen möchte – und, mit Robert Schumann, von den Klavierstücken als „verschleierten Symphonien“. Es ist, als würde der mechanische Aspekt des Klavierspiels – das Ingangsetzen einer Hebel- und Hammerschlagapparatur durch das Drücken von Tasten – gänzlich aus dem Sinn geraten, als entstünde der Klang ganz direkt, wie aus einer menschlichen Kehle. Die Töne, die Beth Levin dem Klavier entlockt, haben die Präsenz scharf profilierter Charaktere, denen gegenüber man gar nicht anders kann als aufmerksam zu lauschen, gebannt von ihrer Persönlichkeit. So spielen heißt wahrlich auf dem Klavier singen!

Davon profitiert nicht nur das seit mehreren Generationen ungehörte Werk Tiessens. Auch Mozart und Schubert erklingen hier in einer Intensität, wie man sie selten zu hören bekommt. Mozarts a-Moll-Sonate entwickelt eine dämonische Energie sondergleichen, die alle Überlegungen, ob ein solches Spiel auch „historisch korrekt“ sei, gegenstandslos macht. Levin wirft die Frage, ob man sich in solch hemmende Gedanken begeben sollte oder nicht, gar nicht erst auf, sondern widmet sich hingebungsvoll der Darstellung der scharfen Kontraste, die das Stück durchziehen. Nicht weniger imponiert die tiefe Ruhe, aus der heraus sie Schuberts große G-Dur-Sonate sich entfalten lässt, um dann in der Durchführung des ersten Satzes ein zerklüftetes Hochgebirge aus Klängen zu errichten. Die abgründigen, tieftraurigen Seiten dieser Musik, verdeutlicht in abrupten Wechseln der harmonischen Richtung oder des Tongeschlechts, bringt sie trefflich zur Geltung, aber auch Schuberts musikantisches Element kommt nicht zu kurz. Im Finale der Sonate hört man gelegentlich die Gitarre durch, andere Abschnitte dieses Satzes klingen durch fein gegeneinander abgesetzte Außen- und Mittelstimmen wie Kammermusik.

Levins Tempi mögen verhältnismäßig langsam sein, aber es handelt sich nicht um Langsamkeit um der Langsamkeit willen, sondern um kluge Disposition: Die Pianistin will nach Möglichkeit alle klingenden Phänomene zur Geltung bringen und lässt sich folglich etwas mehr Zeit. Man merkt: Jeder einzelne Moment im Verlauf einer Komposition ist ihr wichtig, nichts soll unterbelichtet bleiben, alles genau so dargestellt werden, wie es seiner Funktion im Zusammenhang des Ganzen entspricht. Die Versenkung in die Feinheiten der Musik führt mitunter zu deutlich spürbaren Temposchwankungen. Aber auch diese wirken nicht willkürlich, sondern entstehen durch intensives Erleben der Harmonik während des Spiels. Levin musiziert mit einem Wagemut, der an Wilhelm Furtwängler erinnert – auch er ein Musiker, der sich vom Moment mitreißen lassen konnte und doch stets die Übersicht behielt. Wie im Falle des großen Dirigenten haben Beth Levins Beschleunigungen und Verlangsamungen immer ihre Grundlage in der musikalischen Struktur. Stets weiß die Pianistin, wohin sie will, welche Richtung die Musik nimmt. Alles folgt aufeinander in bezwingender Logik. Darum sind ihre breiten Tempi auch viel spannungsvoller als die rascheren mancher ihrer Kollegen. Zu ihrer Dynamik ist noch hinzuzufügen, dass sie laute Stellen wirklich liebt, denn diese klingen bei ihr nie grobschlächtig lärmend. Im Gegenteil wendet sie auf dieselben die gleiche Sorgfalt an wie auf die leisen, vernachlässigt auch bei höchster physischer Kraftentfaltung die Phrasierung nicht und lässt es selbst im härtesten Marcato nicht am Sinn für vokale Linearität fehlen. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, dass wir es mit einem Musizieren von edelster Art zu tun haben.

Angesichts dieses Konzerts kann man nur hoffen, diese außergewöhnliche US-amerikanische Pianistin, eine der ganz großen Musikerinnen unserer Zeit, bald wieder einmal im deutschsprachigen Raum willkommen heißen zu können.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Anmerkung (1. April 2024): Im Falle der Klavierstücke Tiessens spricht nichts dafür, dass der Komponist – wie der Herausgeber Tobias Bröker für möglich hält – das Opus zurückgezogen hätte. Tiessen hat selbst den unveröffentlichten Werken aus seiner Jugendzeit ihre Opuszahl belassen. Man kann also davon ausgehen, dass die Neubesetzung der Opuszahl 21 nicht aus freien Stücken, sondern aus einer Not heraus erfolgte: Nämlich, dass die Klavierstücke op. 21 für Tiessen unauffindbar waren und er nicht mehr damit rechnete, die im Werkverzeichnis klaffende Lücke durch den Fund des Manuskripts zu schließen. (N.F. Schuck)

„Der fromme Revolutionär“ in Wien – eine Ausstellung zum 200. Geburtstag Anton Bruckners

Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Josephsplatz. Über dem Eingang in der Mitte ist das Transparent zur Ausstellung „Der fromme Revolutionär“ zu erkennen.

Am 20. März 2024 eröffnete die Österreichische Nationalbibliothek in Wien ihre Ausstellung Der fromme Revolutionär über Leben und Werk Anton Bruckners.

„Ich vermache die Originalmauscripte meiner nachbezeichneten Compositionen: der Symphonien, bisher acht an der Zahl – die 9te wird, so Gott will, bald vollendet werden, – der 3 großen Messen, des Quintettes, des Tedeum’s, des 150. Psalm’s und des Chorwerkes Helgoland – der kais. und kön. Hofbibliothek in Wien und ersuche die k. u. k. Direction der genannten Stelle, für die Aufbewahrung dieser Manuscripte gütigst Sorge zu tragen.“

Mit diesen Worten hatte Anton Bruckner in seinem Testament noch selbst den Grundstock zu einer Sammlung gelegt, die heute weltweit den größten Bestand an Dokumenten zu Leben und Schaffen des Komponisten darstellt und somit für die Bruckner-Forschung unerlässlich ist. Ursprünglich nur als Aufbewahrungsort der Autographen seiner Hauptwerke vorgesehen, vergrößerte die Österreichische Nationalbibliothek während der über zwölf Jahrzehnte nach Bruckners Tod ihre Sammlung um viele weitere Bruckneriana. Im Laufe der Zeit fanden so neben weiteren Kompositionshandschriften auch Briefe, Aufzeichnungen und andere persönliche Papiere Bruckners, Photographien, Konzertprogramme und künstlerische Rezeptionsdokumente (wie die bekannten Karikaturen Otto Böhlers) den Weg in die Nationalbibliothek.

Anlässlich der 200. Wiederkehr von Bruckners Geburtstag im Jahr 2024 kann seit dem 21. März noch bis zum 25. Januar 2025 im Prunksaal des Bibliotheksgebäudes am Josephsplatz die von Thomas Leibnitz, Präsident der Internationalen Bruckner-Gesellschaft, und Andrea Harrandt, Herausgeberin der Briefe Bruckners, kuratierte Ausstellung Der fromme Revolutionär besichtigt werden, die einen repräsentativen Überblick über die Bruckner-Sammlung der Nationalbibliothek verschafft, aber auch Gegenstände aus anderen Wiener Sammlungen sowie aus Privatbesitz zeigt. Erstmals finden sich dabei sämtliche Manuskripte der Symphonien Bruckners gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Die Partituren sind an charakteristischen Stellen aufgeschlagen, an denen Bruckners Arbeitsprozess deutlich wird. So zeigen Aufzeichnungen am Rande einer Seite aus der Achten Symphonie, wie der Komponist sich selbst Rechenschaft über jede einzelne Stimmführung eines bestimmten Taktes ablegt. Man sieht die Spuren des Abrasierens verworfener Noten und die Überklebungen von Stellen, an denen keine weiteren Rasuren möglich waren. Das Adagio der Siebten Symphonie ist an jener berühmten Stelle aufgeschlagen, an welcher Bruckner auf Anraten Arthur Nikischs und der Brüder Schalk Stimmen für Becken, Triangel und Pauken einklebte, um den Höhepunkt des Satzes zu markieren. Die mit Bleistift nachträglich auf dem Papierstreifen angebrachte Notiz „gilt nicht“ hat die Philologen bis heute nicht losgelassen. Ihr Urheber konnte nie bestimmt werden. Ja, es sieht sogar danach aus, dass die beiden Wörter von zwei unterschiedlichen Schreibern stammen. Eine für Bruckners Entwicklung zum unabhängigen Künstler besonders wichtige Notenhandschrift wird in dieser Ausstellung zum ersten Mal überhaupt öffentlich gezeigt: das sogenannte Kitzler-Studienbuch, das den Unterricht in freier Komposition dokumentiert, den Bruckner von dem Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler zwischen 1861 und 1863 erhielt. Es enthält u. a. die vollständige Partitur des Streichquartetts in c-Moll. Bei der Auflösung von Bruckners Wohnung in die Hände Joseph Schalks gelangt, befand es sich lange Zeit im Besitz von dessen Nachkommen und wurde 2013 von der Nationalbibliothek erworben.

Aber nicht nur die Partituren Bruckners sind sehenswert. Auch an interessanten Zeugnissen seines Lebens fehlt es nicht. So finden wir etwa seinen Taufschein, sein Ehrendoktordiplom und die Verleihungsurkunde des Franz-Joseph-Ordens, einen Taschenkalender mit Bruckners täglichen Gebetsnotizen, Bruckners Reisepass, ausgestellt anlässlich seiner Urlaubsreise in die Schweiz („Besondere Kennzeichen: an der linken Seite des Halses eine Narbe“), Blätter, die Bruckner am Grabe Richard Wagners in Bayreuth aufgelesen hat, ein Passphoto von 1880, das der Komponist anscheinend besonders schätzte, da er es nachweislich zahlreichen Briefen an von ihm verehrte junge Frauen beilegte, und einen Brief Bruckners an Hans von Wolzogen aus dem Jahre 1885, durch welchen die Forschung definitiv belegen konnte, dass die Uraufführung der Siebten Symphonie in Leipzig ein großer Erfolg gewesen ist.

Was die Hörbeispiele anbetrifft, haben die Veranstalter der Ausstellung eine vorzügliche Wahl getroffen und zu Rémy Ballots bei Gramola erschienenem Symphonien-Zyklus gegriffen, der im letzten Jahr durch die Aufnahme der annullierten d-Moll-Symphonie (fälschlich „Nullte“ genannt) im Rahmen der St. Florianer Bruckner-Tage (zur Rezension siehe hier) abgeschlossen wurde.

Thomas Leibnitz merkte anlässlich der Eröffnung an, dass das Motto der Ausstellung die Gegensätze in Bruckners Wesen betont: Bruckner sei beides, sowohl ein frommer Mann, als auch ein Revolutionär gewesen. War er von den Zeitgenossen vor allem als radikal moderner Künstler wahrgenommen worden, so habe das Bruckner-Bild in der Zeit seit seinem Tode sich mehrfach gewandelt, wobei der Fromme und der Revolutionär als Pole erkennbar blieben. Im frühen 20. Jahrhundert wurde Bruckner zu einer Gallionsfigur konservativer politischer Kräfte, in der Zeit des Nationalsozialismus als deutsches Originalgenie gepriesen, das frühe Nachkriegsösterreich sah in ihm vor allem einen katholischen Künstler, wohingegen in den 1970er Jahren die neurotischen Züge seiner Persönlichkeit betont wurden. Die Ausstellung Der fromme Revolutionär strebe nicht danach, so Leibnitz, die Reihe dieser Bruckner-Bilder um ein weiteres zu erweitern, sondern Bruckner in der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Person auf Grundlage des heutigen Forschungsstandes vorzustellen.

Nach Mitteilung von Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Nationalbibliothek, und Andrea Harrandt werden gemäß geltenden Regeln die Manuskripte nach der Ausstellungseröffnung noch drei Monate lang im Original zu sehen sei. Bei mehrbändigen Werken (wie den meisten Symphonie-Handschriften) werden die Bände ausgewechselt, ansonsten wird man sich mit Faksimiles behelfen.

Die feierliche Eröffnungsveranstaltung am Abend des 20. März 2024 bot den anwesenden Gästen Großartiges in Ton und Wort. Clemens Hellsberg, Primgeiger im Orchester der Wiener Staatsoper und ehemaliger Vorstand der Wiener Philharmoniker, hielt einen Vortrag, in welchem er, angelehnt an Klaus Heinrich Kohrs‘ Buch Anton Bruckner. Angst vor der Unermesslichkeit, den Komponisten als einen krisenhaften Künstler schilderte, hin- und hergerissen zwischen seinem beständigen Drang zur grenzüberschreitenden Ausformulierung des Unermesslichen in Tönen und dem immer stärker hervortretenden Gedanken an den Tod – Grundgegensätze seines Denkens, die in der Neunten Symphonie in schärfster Konfrontation aufeinandertreffen und, da das Werk unvollendet blieb, letztlich zu keiner Lösung finden. Hellsberg nutzte im Laufe seiner Rede die Gelegenheit, mit diversen Legenden über Bruckner aufzuräumen. So wies er ausdrücklich Hans von Bülows Bezeichnung Bruckners als „halb ein Gott, halb ein Trottel“, die im Original „Halbgenie + Halbtrottel“ lautet, zurück, indem er Bruckners vorzügliche Leistungen in seinem Bildungsgang als Lehrer betonte. Aber auch einer Verklärung der weniger sympathischen Eigenschaften Bruckners trat er entgegen, war der Komponist doch, wie seine Briefe zeigen, mitunter durchaus zu störrischem Verhalten und ungerechten Äußerungen fähig (etwa gegen das Stift St. Florian und die Stadt Linz). Als besonders wichtig darf die Aufklärung über ein häufig angeführtes, Bruckner aber fälschlicherweise zugeschriebenes Zitat bezeichnet werden: „Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik“, soll Bruckner einmal gesagt haben. Tatsächlich handelt es sich um eine Äußerung Adalbert Stifters, die dieser am 17. Dezember 1860 in einem Brief an Gustav Heckenast niederschrieb und die eigentlich lautet: „Weil die gegenwärtige Weltlage Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und dichte starke Menschen und dies stärkt mich selber.“ Ein Schriftsteller hat dieses Zitat später auf Bruckner umgedichtet, unachtsame Autoren griffen es auf und gaben es als originalen Bruckner wieder.

Bruckner kam an diesem Abend selbst zu Wort in Form des langsamen Satzes aus dem Streichquartett c-Moll und des Scherzos aus dem Streichquintett F-Dur, gespielt vom Ballot-Quintett (Rémy Ballot und Iris Ballot, Violinen, Stefanie Kropfreiter und Nataliia Kuleba, Bratschen, und Marta Sudraba-Gürtler, Violoncello). Hinsichtlich der Feinabstufungen in Dynamik und Tempo, der Interaktion der einzelnen Stimmen miteinander, der Phrasierung und der schlüssigen Darstellung des musikalischen Verlaufs leistete das Ensemble, welches beide Werke bereits in veritablen Referenzeinspielungen vorgelegt hat, Hervorragendes und trug dadurch wesentlich zum Gelingen des Abends bei.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Feine und weise Mathematik der Töne – Andrea Vivanet spielt Jan Pieterszoon Sweelinck

Piano Classics, PCL10280; EAN: 5 029365 102803

Der italienische Pianist Andrea Vivanet hat eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck vorgelegt.

Die Flut der neu eingespielten CD’s nimmt nicht ab. Wozu dienen sie? Kommerziell sind sie längst bedeutungslos, auch Einnahmen aus diversen Streaming-Plattformen, deren Namen hier zu nennen sich aus Gründen des Respekts vor der Würde des Künstlertums vieler ernsthafter Musikerinnen und Musiker verbietet, sind ebenfalls marginal. Es wird wohl Geld damit verdient, aber dieses landet nicht bei den Ausübenden, deren Kunst auf diese Weise irgendwie hörbar gemacht wird.

Junge, alte, bekannte, unbekannte Künstlerinnen und Künstler, stehen einfach unter dem Druck, gehört zu werden, soll ihre Existenz kein Selbstzweck sein, mehr als l’art pour l’art (als wenn genau das nicht schon etwas wäre). Der oft aus gutem Grunde klarsichtig-nörgelnde Dirigent Sergiu Celibidache hat sehr richtig den zunehmenden Tod der Musik aufgrund der Kommerzialisierung durch die damals noch so genannte Plattenindustrie kommen sehen.

Lassen wir die technischen Aspekte außer Acht – dass keine Aufnahme so klingt wie ein Konzert in einem wirklichen Konzertsaal, weiß nun schon jedermann, und dass die Gewohnheit, den Klang aus dem Smartphone als normal zu akzeptieren, auch normal geworden ist. Die kommerzielle Aufnahmeindustrie ist noch machtvoll tätig, Aufnahmen sind aber kein Selbstzweck mehr, sondern auf einem gewissen Niveau ein Paketbaustein, um eine Karriere zu fördern oder zu bestätigen, z.B. wird ein Symphonien-Zyklus aufgenommen, um damit das Interesse an einer Tournee mit diesem Programm zu fördern, und umgekehrt.

Aufnahmen sind also irgendwie virtuell in dem Sinne, dass sie keine Tatsächlichkeiten, keinen Sinn als Dokumente haben, sondern Teil eines kommerziellen Zwecks sind. Das geht in Ordnung, denn das Geschäft muss laufen, daran gibt es rein gar nichts auszusetzen. Die klassische Musik ist auf diesem Niveau schon zu einer Popkultur geworden, was ganz in Ordnung geht, wenn man diese Popkultur nicht mit der Musik selber verwechselt. Sie, die Popkultur, ist nicht die Spitze eines Eisbergs, dessen größere Hälfte im Meer verborgen schwebt, sie ist mehr eine wolkenhafte Erscheinung, die sich von einer nie enden wollenden Kreativität von Komponistinnen und Komponisten und Musikerinnen und Musikern und von ihrem nie versiegenden schöpferischen Reichtum längst abgekoppelt hat.

Die viel beschworene Krise dieser Musik scheint daher auch eher eine Krise der Musikindustrie zu sein, als eine Krise der klassischen Musik und der in ihr lebenden und ausgeübten Kreativität selber. Eine Diskussion hierüber spielt an diesem Platz jedoch keine Rolle.

Denn es hat, und darauf läuft dieser kleine Text hinaus, die Flut der eigenspielten CD’s, oder „Alben“, noch einen anderen, gar nicht kommerziellen Effekt: die meist dem sogenannten breiten Publikum unbekannten Künstlerinnen und Künstler finden Unentdecktes, denken musikalisch-kuratorisch und werden im besten Fall mit ihrer vorangegangenen geistigen Beschäftigung mit den eingespielten Werken doch wahrgenommen – und gehört.

Und dann erscheint, trotz der erwähnten Kassandrarufe, in Einzelfällen eine Überraschung in Form einer positiven, ja zutiefst gute Seite der Aufnahmeflut: Sorgfalt ist am Werk, Respekt vor dem Werk, vor der humanen Dimension der künstlerischen Arbeit, womit Musik wieder im besten Sinne zum Selbstzweck, nämlich eine l’art pour la humanité wird. Aufnahmen werden dann nicht eingespielt, produziert, sondern als Ergebnis einer wirklichen Beschäftigung mit der Materie, von der sie handeln, tatsächlich v o r g e l e g t.

Einen solchen glückliche Fall haben wir hier mit der vom italienischen Pianisten Andrea Vivanet erschienenen Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck, der von 1562 bis 1621 lebte und Zeit seines Lebens Organist in der Oude Kerk in Amsterdam war. Die hier zu hörenden Werke wurden von Sweelinck selber nie veröffentlicht und überlebten die Zeitläufte nur durch glückliche Umstände, wie dem aufschlussreichen Booklet von Florian Schuck zu entnehmen ist.

Wer den Komponisten nicht kennt, hat hier eine wunderbare Gelegenheit, ihn kennenzulernen und dabei auch, im Vorbeigehen sozusagen, eine sympathische Freundschaft mit dem Kontrapunkt einzugehen und diesen als Klarheit, die zu Schönheit führt, zu erleben. Toccaten und Variationen legen Zeugnis ab dafür, wie aus einer geheimnisvollen, feinen und weisen Mathematik der Töne Musik wird.

Andrea Vivanet lässt uns in seiner Aufnahme hören, wie zeitlos Musik ist, die dieser seltsamen Mathematik entspringt, die ja keine Mathematik ist, sondern einfach nur vor lauter Klarheit unmöglich zu fassen und mit keinem Wort zu definieren. Schon die ersten erklingenden Töne zeigen uns die musikalische und instrumentale Beherrschung, die aus dem wirklichen Verständnis des Pianistischen und eines kontrapunktischen Tonsatzes entspringt. Vivanet verwirklicht auf das Schönste die Klarheit, Einfachheit und die natürliche Selbstverständlichkeit dieser feinen Partituren.

Eine bestimmte Form des Purismus mag gerne stirnrunzelnd bemängeln, dass der bemerkenswerte Pianist keine historischen Tasteninstrumente gewählt hat, um uns diese Musik näherzubringen, doch verhallt diese Beschwerde in einer anderen, ebenfalls strengen Form des Purismus, nämlich jener, die stirnglättend Wert darauf legt, dass ein Tonsatz wie vom Komponisten erdacht, gehört und niedergeschrieben, wieder in allen Parametern in der Aufführung neu entsteht.

Der moderne Flügel, den Andrea Vivanet hier wählt, scheint dabei für die feinen Sweelinck’schen Wahrheiten denn auch unter seinen Fingern gerade das perfekte Instrument zu sein.

[Jacques W. Gebest, März 2024]

Boris Giltburgs formidabler Rachmaninow

Naxos, 8.574528, EAN: 7 47313 45287 3

Mit den Klavierkonzerten Nr. 1 und 4 und der Rhapsodie über ein Thema von Paganini vervollständigt der russischen Pianist Boris Giltburg seine Einspielungen der Werke für Klavier und Orchester von Sergej Rachmaninow. Begleitet wird er von den Brüsseler Philharmonikern unter der Leitung von Vassily Sinaisky.

Boris Giltburg kann mittlerweile getrost als eines der Aushängeschilder des Labels Naxos gelten, und neben – natürlich – Beethoven liegt ein besonderer Schwerpunkt seines Interesses auf der Musik Rachmaninows. Mit der vorliegenden Neuerscheinung (des vergangenen Jubiläumsjahres 2023) komplettiert er seine Einspielung von Rachmaninows Werken für Klavier und Orchester, wobei im Vergleich zu den bereits vor Jahren erschienenen mittleren Konzerten Orchester und Dirigent gewechselt haben und ihm nunmehr mit Vassily Sinaisky ein veritabler Altmeister der russischen Dirigentenschule zur Seite steht.

Im Fokus stehen diesmal also die im Vergleich zu den Konzerten Nr. 2 und 3 sicherlich ein gutes Stück unpopuläreren Klavierkonzerte Rachmaninows, was natürlich sehr stark in Relation zu betrachten ist – immerhin sind auch diese Werke um ein Vielfaches besser in Einspielungen dokumentiert als unzählige andere Konzerte weniger prominenter Komponisten. Die Gründe dafür liegen sicherlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in einem Rachmaninow-Bild, das wesentlich auf den romantischen Schmelz seiner mittleren Schaffensperiode ausgerichtet ist, von dem beide Werke unzweifelhaft weniger enthalten. Dass sie aber aus anderen Gründen ihre ganz eigenen Reize haben und in vielerlei Hinsicht nicht weniger lohnenswert sind, steht auf einem anderen Blatt.

So kann man natürlich im Klavierkonzert Nr. 1 fis-moll op. 1, entstanden 1890/91 und 1917 grundlegend revidiert, noch relativ direkt allerlei Einflüsse ausmachen wie Tschaikowski (gleich in der Eingangsfanfare oder im lyrischen Mittelsatz) oder die nationalrussische Schule, und damit, dass der Beginn etwas an Schumanns Klavierkonzert erinnert, ist Rachmaninow bekanntlich nicht allein (in der Tat orientiert sich die Urfassung deutlich an Griegs Konzert). Bei alledem handelt es sich aber – erst recht in der Revision – um ein durch und durch lohnenswertes, selbstständiges und inspiriertes Werk, dessen finaler Wirbel (in der revidierten Fassung) übrigens nicht als Apotheose einer „großen Melodie“ konzipiert ist, sondern stellenweise fast etwas Robust-Tänzerisches an sich hat.

Schumann ist bis zu einem gewissen Grade auch der Referenzpunkt für die Momente des Innehaltens, des zart-poetischen Zögerns, die für den ersten Satz des Konzerts (neben der gleich auf den ersten Blick auffallenden großen Geste) charakteristisch sind, und es sind gerade diese Stellen, an denen die Qualitäten von Giltburgs Spiel ganz besonders zur Geltung kommen. Giltburg ist ja jemand, dessen Spiel sich durch ausgesprochene Kultiviertheit, sehr sorgfältige Artikulation, feine Lyrik und beseelte Emotionalität auszeichnet, ein Meister des Rubatos und der wohldurchdachten, wunderbar austarierten Übergänge. Davon zeugt in exemplarischer Weise auch der erste Einsatz des Klaviers im zweiten Satz, dessen Atmosphärik des Suchens, des zarten Sich-Vortastens Giltburg perfekt zu realisieren versteht. Ähnliches gilt für das kapriziöse Hauptthema des Finales.

Selbst in den forciertesten Passagen, so etwa in der großen Kadenz im ersten Satz, lässt sich Giltburg Raum für Differenzierungen, setzt niemals nur auf Klangfülle. So lobenswert dies grundsätzlich ist: hier und da wäre es sicher möglich, die Grandezza, das Pathos, das diese Musik zweifelsohne besitzt, bedingungsloser auszuspielen. Insgesamt aber ist dies von Seiten Giltburgs eine ausgesprochen hochklassige Einspielung.

Das Album beschließt Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4 g-moll op. 40, 1926 fertiggestellt, hier aber (wie zumeist) in der revidierten Fassung aus dem Jahre 1941 eingespielt. Die Rezeption dieses Werks ist von Anfang an kompliziert gewesen, inklusive verheerender Kritiken der amerikanischen Presse nach seiner Uraufführung. Was dieses Werk auszeichnet, ist seine herbe, distanzierte Lyrik, oft auch Nervosität, eine gewisse Lakonie, die stellenweise geradezu brüsk anmuten kann. Rachmaninow rezipiert hier diverse Einflüsse der Musik jüngerer Kollegen; darauf, dass manche Passagen auch durch Jazz inspiriert sind, wird gerne hingewiesen (und dieser Punkt manchmal vielleicht etwas überstrapaziert), aber manche Aspekte der im Vergleich zu früheren Werken deutlich aufgerauten Orchestrierung weisen auch zum Beispiel auf Prokofjew hin.

Nichtsdestoweniger findet man aber auch in diesem Werk die für Rachmaninow typischen Kantilenen, nur dass sie nun isolierter wirken, Episode bleiben, in Frage gestellt werden. So bleibt selbst die Apotheose gegen Ende des Finales nicht ohne Zwischentöne, und der Schluss ist sicher kein uneingeschränkter Triumph, sondern besitzt auch eine gewisse trockene, nüchterne, vielleicht ein Stück weit groteske Note. Wenn man so will, ist dies ein Rachmaninow in einer neuen, fremden Umgebung, und begreift man das Konzert auf diese Weise, erscheint es umso faszinierender und das Brodeln mal unter, mal über der Oberfläche, das gerade in den Ecksätzen stets präsent ist, umso aufregender – ein Werk, das seinen Geschwistern tatsächlich in keiner Weise nachsteht.

Giltburg legt erneut eine exzellente, fein differenzierte, eher zurückgenommene, zur Introspektion neigende Lesart dieser Musik vor, die nicht nur lokal stattfindet, sondern die großen Linien und die Dramaturgie des Werks nachvollzieht. Sein Spiel ist von einer großen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit geprägt, nichts klingt gewollt oder inszeniert. Im dritten Satz wählt er ein eher verhaltenes, obwohl nicht explizit langsames Tempo, zu beobachten schon gleich zu Beginn, den er wiederum mit einem gewissen Zögern begreift; hier wäre stellenweise (speziell im Orchester) mehr Schärfe und mehr Dynamik möglich, obwohl die für diese Musik so charakteristische Ambivalenz sehr gut eingefangen wird.

Mit den Brüsseler Philharmonikern und Sinaisky hat Giltburg sehr kompetente Mitstreiter an seiner Seite, sodass sich auch der Orchesterpart auf hohem Niveau bewegt – allerdings mit einer Einschränkung: es muss wohl an der Tontechnik liegen, dass das Orchester an manchen Stellen schlicht nicht präsent genug ist. Dies betrifft Dialoge mit dem Klavier oder thematische Einwürfe wie etwa die Melodielinie in den Bratschen bei Ziffer 30 im 2. Satz des Konzerts Nr. 1, den Seufzer im Horn kurz vor Ende dieses Satzes (bei Ziffer 37) oder die Celli beim 2. Thema im 1. Satz des Konzerts Nr. 4, aber auch farbliche Nuancen wie die trillerartigen Horngesten wiederum in diesem Satz (kurz nach Ziffer 22). Generell sind es besonders die tiefen Lagen, die stärker vernehmbar sein müssten, so etwa die gelegentlichen Tubasoli im Konzert Nr. 4, die nun einmal ihren Teil zu der ganz speziellen Aura dieses Werks beitragen.

Zwischen den beiden Werken steht – minutiös in Tracks aufgeteilt – die 1934 entstandene Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, die noch charakteristischer für Rachmaninows Spätstil ist als das (ein wenig als Werk des Übergangs zu begreifende) Vierte Klavierkonzert, aber aufgrund ihrer effektvollen Dramatik (inklusive reichlicher Verwendung des „Dies irae“), ihrer größeren Extravertiertheit und auch des schwelgerischen Melos gerade der Variation Nr. 18 (das aber tatsächlich durch Umkehrung direkt aus Paganinis Capricenthema entsteht) deutlich größere Popularität genießt.

Giltburg bleibt sich auch hier treu und lotet gerade auch die Variationen, in denen die Musik innehält, wie etwa noch relativ zu Beginn die Variation Nr. 6, mit der ihm eigenen Kunst des pianistischen „Sinnierens“ aus. Wenigstens am Anfang erscheint das Orchester hier präsenter, obwohl manche Passagen mehr Differenzierung, mehr orchestrale Schärfe vertragen könnten – man beachte etwa das letzte „Dies irae“ kurz vor dem (dann doch wieder mit trockener Geste etwas relativiertem) A-Dur-Triumph, das eher breit als packend gerät. Insgesamt eine Lesart, der das Besessene, das diesem Werk innewohnt, etwas abgeht, allerdings auf hohem Niveau und teilweise wohl auch bewusst, zumal Giltburg selbst dem Werk insbesondere auch eine unterhaltsame, vielleicht sogar humorvolle Note zuspricht.

Es ist zwar zu bedauern, dass Naxos mittlerweile offenbar weitgehend dazu übergegangen ist, lediglich englische Begleittexte anzubieten; inhaltlich aber ist der Text, den Boris Giltburg für diese Produktion selbst verfasst hat, vorzüglich: eine sehr sorgfältige, detaillierte, umfassend informierende, von großer Begeisterung für diese Musik getragene und durchaus persönlich gehaltene Einführung in diese Werke. So fällt das Fazit insgesamt ausgesprochen positiv aus: Giltburg hat hier eine Einspielung vorgelegt, an die man sehr hohe Maßstäbe anlegen kann.

[Holger Sambale, März 2024]

Wirkungsvoller Adès, problematischer Beethoven – Simon Rattle im Herkulessaal

Auch bei den Abo-Konzerten am 14. und 15. März 2024 im Münchner Herkulessaal erlebte das Publikum die Uraufführung eines Auftragswerks für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Thomas Adès‘ „Aquifer“. Zuvor dirigierte Sir Simon Rattle „Vorspiel und Liebestod“ aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“, nach der Pause dann Beethovens Symphonie Nr. 6. Der Rezensent besuchte die Aufführung am Donnerstag, 14. 3.

Thomas Adés und Sir Simon Rattle mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks © BR/Astrid Ackermann

Auf dem ziemlich engen Podium des Herkulessaals wirkt bereits die volle Orchesterbesetzung einer Wagner-Oper – in diesem Fall noch nicht mal des Rings – respekteinflößend, zumal wenn zusätzlich schon der ganze Schlagzeugapparat plus Konzertflügel etc. für eine Uraufführung bereitstehen. Und der Saal ist augenscheinlich komplett ausverkauft. Beim Programm dieses Abends scheint sich vieles um den Topos „Wasser“ zu drehen: In Wagners Tristan und Isolde spielt ja der komplette erste Aufzug auf dem Meer, und im dritten Akt beherrscht dessen Nähe psychologisch vor allem den unglücklichen Helden. In Beethovens Pastorale gibt es das anmutige Bächlein, aber ebenso ein beängstigendes Gewitter, und Aquifer, der Titel von Thomas Adès‘ neuem Orchesterwerk, bezeichnet in der Geologie eine Grundwasser führende Gesteinsschicht.

Simon Rattle beginnt beim Vorspiel und Liebestod aus Wagners Oper sehr langsam, steigert sukzessive mit der zunehmenden Komplexität der sich ineinander verzahnenden Motivik wohldosiert das Tempo, ist dann am Höhepunkt des Vorspiels – da vermisst man leider die zu verhalten gespielten Hörner, Bassklarinette und Violoncelli als echte Gegenstimme – angenehm flüssig. Zwingend gelingt auch der Aufbau von Isoldes Liebestod, jedoch mit britischem Understatement, das Wagners musikalischen Strukturen vertraut und nicht versucht, diese ohnehin dichte Gefühlswelt noch künstlich hochzupushen. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks überzeugt hier klanglich in jedem Detail, mit der genau richtigen Balance für den Saal.

Thomas Adès (Jahrgang 1971) dirigierte im Herkulessaal zuletzt – Anfang 2020 – selbst sein Klavierkonzert, längst ein Erfolgsstück trotz einiger Eklektizismen. Sein viertelstündiges Auftragswerk fürs BRSO – mit Unterstützung der Carnegie Hall und des Wiener Musikvereins – knüpft qualitativ an die besten Orchesterwerke an, die er bislang geschrieben hat. Die Idee des Aquifers wird so vielmehr allgemeines Sinnbild für Werden und Vergehen als nur eine pittoreske Darstellung von fließendem Wasser, das mit Widerständen zu kämpfen hat. Adès kann hierbei einmal mehr seiner ganz besonderen Begabung gerade für dunkle Klangfarben frönen. Zu Beginn bewegt sich der junge Grundwasserlauf allerdings als quicklebendiger Schwall, mit glänzenden Bläser- und Schlagzeugeinwürfen, bevor er – Streicher auf Blech-Untergrund – bald ins Stocken gerät: ein, zwei Minuten ziemlicher Leerlauf mit eintönigen, chromatischen Abwärtsbewegungen meist nur innerhalb kleiner Terzen. Adès‘ Harmonik bleibt in weitgehend tonalen Rahmen, verzichtet zunächst völlig auf Mikrointervalle. Später – im Lauf einer grandiosen, wirkungsvollen Steigerung – erscheinen dann teils unisono bedrohlichere Wendungen in den Streichern, die mittels Glissandi auch mal um einen Viertelton „verrutschen“. Die rhythmischen Schichten werkeln dafür wie gewohnt komplexer: Erstaunlicherweise erhalten sie dabei für den Hörer ihren geradezu unwiderstehlich natürlichen Fluss, sind jedoch für den Dirigenten eine enorme Herausforderung, die Sir Simon selbstverständlich souverän meistert. Zuletzt scheint der Wasserlauf – mit recht traditionell anmutenden Fanfaren im Blech – seine Freiheit bis ans Tageslicht gefunden zu haben; was passt besser zu frischem Wasser als strahlendes C-Dur? Ganz am Schluss muss der einstige Schlagzeuger Rattle mit einer großen Ratsche (rattle) in der Rechten den gewaltigen Strom abwinken – netter Gag britischen Humors. Sicher kein Werk für die musica viva, aber einfach großartig, was vom Publikum ebenfalls begeistert honoriert wird.

Problematischer gerät dem BRSO diesmal Beethovens Pastorale. Rattle bleibt seinem Konzept, das u. a. auf extrem flexiblen, zugleich immer äußerst flüssigen Tempi basiert, und welches er seit seinen Aufnahmen mit den Wiener oder den Berliner Philharmonikern konsequent verinnerlicht hat, treu. Leider folgt ihm das Orchester von Beginn an nicht aufmerksam genug. So viel Geklappere, mangelnde Präzision im Zusammenspiel und stellenweise klangliche Mattigkeit bei einer Beethoven-Symphonie habe ich hier lange nicht mehr gehört. Liegt es daran, dass am Abend nach einer sicher anstrengenden Generalprobe leichte Ermüdungserscheinungen auftreten? Kaum ein Übergang gelingt perfekt – gerade im Kopfsatz. Schon beim minimalen Ritardando vor der Fermate im vierten Takt ist man sich uneins. Natürlich möchte Rattle das eigentliche Hauptzeitmaß erst im Tutti Takt 37 erreichen; dass er die Musiker zuvor jedoch regelrecht antreiben muss, ist vermutlich so nicht geplant. Dennoch bezaubern durchweg ordentliche Klangfarben; auch die im ersten Satz (Durchführung) mittels Ostinati erzeugten quasi Klangflächen sowie die des „Bächleins“ im Andante molto mosso stiften Atmosphäre und werden nie langweilig. Dort ist die synkopierte Holzbläsergrundierung erneut hörbar ungenau.

Richtig bei der Sache ist man dann erst im Lustigen Zusammensein der Landleute: Besonders stimmig wird es ab dem derberen Mittelteil im Zweier-Takt, und schon der Übergang zum Gewitter wirkt unheimlich. Das folgende Naturschauspiel ist an Intensität kaum zu überbieten, ohne an Klangkultur einzubüßen. Dem Finale fehlt es ein wenig an Aufrichtigkeit: Innige Dankbarkeit kann man hier jedenfalls nicht spüren. An einigen Stellen nimmt der Dirigent das eigentliche Hauptthema zugunsten des Hirtenmotivs zurück – unklar, warum. Immerhin endet das Ganze zumindest nachdenklich. Der Eindruck dieser Darbietung bleibt für den Rezensenten jedoch zwiespältig, obwohl sie im Saal wahre Beifallsstürme auslöst.

[Martin Blaumeiser, 16. März 2024]

Jetzt hat er uns geprüft: Das Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Marek Janowski im Musikverein Wien

Im Bruckner-Jahr hat das Publikum die Möglichkeit zur eingehenden Beschäftigung mit den Symphonien von Anton Bruckner. Die Aufführung seiner 5. Symphonie durch das Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Marek Janowski am 8. März 2024 im Wiener Musikverein gab dabei Gelegenheit, einige grundlegende Überlegungen anzustellen.

Gedenktafel an der Kirche Maria Treu, Wien.

Zunächst überraschte und überzeugte das Bruckner Orchester Linz von den ersten Noten an mit etwas, das man tatsächlich Bruckner-Klang nennen kann: ruhige Bogengeschwindigkeit auch bei zunehmend rascheren Tempi und sparsames Vibrato bei den Streichern und ein in jeder Dynamik kompakter, nie überbordener Bläserklang ließen erst aufhorchen und dann vertieft zuhören. Es steht völlig außer Frage, dass dieses Orchester ein echtes Bruckner-Orchester ist, und in der Lage, den besonderen Anforderungen einer Bruckner-Partitur im Hinblick auf dunkle, grundierte Tongebung, langen Atem und Perspektive weiter Klangflächen gerecht zu werden.

Marek Janowski kann man mit höchstem Respekt einen großen Dirigenten der alten Schule nennen, wenn man eine solche in Gegensatz zu einer neuen, bzw. modernen Schule stellen könnte, allein ermangelt es wohl einer solchen. Marek Janowski zeigt eindrücklich, was ein wirklicher Dirigent ist, dem es um das Werk geht und darum, jederzeit mit sicherer Hand und angemessener Zeichengebung einen musikalischen Fluss zu ermöglichen und zu steuern.

Es gibt nicht viele Dirigentinnen und Dirigenten der jüngeren Generation, die dies vermögen, oder überhaupt das Bedürfnis nach einer solchen Berufsauffassung zeigen – was gerne als Aufforderung verstanden werden darf, sich doch wirklich um eine fundierte dirigentische Bildung und Ausbildung mit etwas Demut vor den zu dirigierenden Werken und ihren Komponisten zu bemühen, und sich nicht von frühen und raschen Karriereerfolgen entweder blenden zu lassen oder sich solche zum Vorbild zu nehmen.

Janowski zeigt uns, dass der Dirigierberuf eine Substanz hat, die nicht wegdefiniert werden kann, hochaktuell und gleichzeitig kaum noch vorhanden, und nicht den Schwankungen von Moden oder dem Geschmack des Social-Media-Publikums unterworfen ist, sondern zeitlose Anforderungen stellt, und was es heißt, nicht einem volatilen Erregungsgrad, wodurch auch immer hervorgerufen, beim jederzeit applausbereiten Publikum zu dienen.

Dies vorausgeschickt, muss nun aber trotzdem konstatiert werden, dass der Abend nicht so verlief wie zunächst erhofft. Bruckners 5. Symphonie gilt von jeher als seine schwierigste, vor allem, weil das Finale aus scheinbar unübersichtlichen Kontrapunktstücken besteht, bevor es dann glücklich in einen überwältigenden Schlusschoral mündet, der nicht nur als Coda den letzten Satz, sondern die ganze Symphonie zusammenfasst, abrundet und beschließt. Das kann nur Bruckner.

Beginnen wir mit dem 1. Satz. Die ersten Takte ließen unbedingt klanglich aufhorchen, selten und schon lange nicht mehr so gehört, doch schon bald störte beim ersten „Bewegter“, wo Bruckner das künftige Allegro-Tempo als Referenz vorschreibt, ein etwas zu gewolltes accelerando die natürlich Entwicklung.

Es gibt wohl eine Tradition, hier das Tempo zugunsten eines dramatischen Effekts anzuziehen, doch widerspricht dies nicht nur der Vorgabe Bruckners, sondern überhaupt dem alten Gesetz und klassischen Prinzip der Tempoproportion, dem sich Bruckner als vermeintlicher Romantiker – kaum unpassender kann dieser Begriff sein als im Zusammenhang mit dieser Symphonie – hier verschreibt, und dem auch sein wiederum vermeintlicher Antagonist Brahms, zum Beispiel in seiner 1. Symphonie, gehorcht hat.

Nun, einer Partitur mit ihren innewohnenden Gesetzen strikt zu gehorchen ist nicht jedermanns Sache; zu gerne und zu leicht stellt man auch unmerklich den Komponisten hintenan und sich selbst vor das Werk, was das Publikum oft dankbar mit einem anerkennenden Seufzer angesichts eines erkennbaren sogenannten Gestaltungswillens des Interpreten honoriert.

Marek Janowski ist jedoch erkennbar kein Egomane, dem die Partitur in dieser Beziehung egal wäre, sondern als Dirigent immer ein Diener des Werks und Metierbeherrscher, jedoch scheint er hier der obengenannten Tradition zu folgen, die aus Althergebrachtheit noch nicht das Bedürfnis oder die Gelegenheit hatte, eine Bruckner-Partitur nicht nur als Empfehlung anzusehen, und sogar als eine Art Verfügunsgmasse, mit der man irgendetwas anstellen muss, um sie zur Wirkung zu bringen. Nun hat man mit Bruckner‘schen Symphonien bekanntermaßen schon zu seinen Lebzeiten alles Mögliche angestellt, und es fehlt auch heute noch oft, und das ist eine bittere Erkentnis, eine Befreiung von falschen Traditionen, durch die Bruckner nicht mehr als irgendetwas interpretiert, sondern wirklich durchgehört und dann entsprechend musiziert wird. Das gab es vereinzelt hier und da, doch liegt das schon eine Zeit zurück und ist wohl nicht durchwegs auf fruchtbaren Boden gefallen.

So braucht man zunächst viel Vertrauen in Bruckner, um sich auf die Mächtigkeit seiner Symphonien einzulassen und die absolute Klarheit seiner Partituren zu erkennen, und sie letztlich ausschließlich aus den Gesetzlichkeiten des Tonsatzes entstehen zu lassen.

Beim Beginn des 1. Satzes, störte also das so willkürlich-traditionelle wie traditionell-willkürliche accelerando die auskomponierte, also nicht interpretierbare, Tempoproportion, auch wurde die höchste Spannung des dem Allegro unmittelbar vorausgehenden Adagios mit seinen dominantischen Nonen-Akkorden bedeutungslos überspielt anstatt seine Funktion als unmittelbarer Auslöser des Allegros hörbar zu machen, um das Tempo nun gänzlich ohne Berücksichtigung des Tempoverhältnisses noch weiter zu beschleunigen, vielleicht in der Hoffnung, diese gefürchtete „symphonische Riesenschlange“ (so der unvermeidliche Hanslick) am Ende nicht zu lang werden zu lassen.

Musik hält oft einiges aus; so sind Symphonien von Beethoven vergleichbar eingreifenden Ansätzen gegenüber, die meist als Geschmacksfragen abgetan und dadurch einer substanziellen Diskussion enthoben werden, durchaus resilient. Bruckner hat solchen Eingriffen weniger entgegenzusetzen, scheint es, und so zerfiel der 1. Satz nach und nach, doch noch unmerklich, da das Heilsuchen in schnellen Tempi, in der Coda auf die Spitze getrieben, und in oberflächlicher Dramatisierung zumindest den Effekt hatte, über die verlorengehenden Details hinwegzuwischen. Bruckner ist aber kein Dramatiker, sondern ein Symphoniker.

Und so war kaum etwas irgendwann die musikalische Konsequenz des Vorhergegangenen. Das ging an, solange man als Hörer nicht den wunderbaren Klang des Orchesters vom ersten Beginn vermisste, der mit zunehmender Länge des ersten Satzes nach und nach seine innere Gefasstheit, und damit von seiner ureigenen Bruckner-Orchester-Linz-Qualität, verlor.

Wirklich virulent wurde dieses wie ein Riss in einer Mauer fortschreitende Phänomen mit dem zweiten Satz, der denn auch als nicht gelungen bezeichnet werden muss. Es existiert hier eine immerwährende Diskussion darüber, ob der Beginn eigentlich im vogegebenen alla-breve Metrum in sechs oder in vier geschlagen werden soll. Das mit vier Takten beginnende Streicher-Pizzicato ist in triolischen Vierteln notiert, das dann einsetzende Thema in duolischen Vierteln.

Die erste Meinung, durchaus schwierig umzusetzen, geht dahin, gegen die Triolen des Pizzicatos der Streicher vier zu schlagen, was zu einer starken – aber so komponierten – metrischen Spannung führt, die von der mit dem Thema einsetzenden Oboe komplettiert wird. Eine andere, pragmatischere Meinung, der Marek Janowski hier folgt, findet es besser, sechs zu schlagen, weil es einfacher für die Streicher sei, und auch im Verlauf des Satzes seine Vorteile habe. Oder man argumentiert gar, Bruckner habe falsch notiert – welch köstlich-naive Vorstellung!

Es war nun sehr interessant zu beobachten, was daraus folgte. Das Tempo ist zu Beginn als „Sehr langsam“ bezeichnet, resultierte an diesem Abend dann aber durch im Tempo nicht ganz stabile Triolen-Viertel, hörbar am unweigerlichen Davonrennen der Sextolen-Achtel, die das erste Thema in das zweite überleiten, in ein dahinfließendes Andante, und wurde durch dieses etwas zu rasche Tempo, bedingt durch das nicht stattgefundene Gegen- und Übereinander von Triolen und Duolen beim Beginn, zur Ursache einer durchgehend wachsenden klanglichen inneren Nervosität der Ausführung.

Auch das zweite Thema, mit „Sehr kräftig, markig“ bezeichnet, brachte keine Ruhe ins Spiel, vielmehr zog der Dirigent ganz ohne Not oder Partituranweisung das Tempo noch einmal an und versäumte so schon zu Beginn, dem Werk den breiten Atem zu geben, den es braucht, um auch der Steigerung zum Schluss hin ihre ganz von innen kommende Wirkung zu ermöglichen.

Das Werk bekam keine Zeit, sich vollends zu entfalten, und das Ergebnis war nun, wo Ruhe in der Bewegung hätte sein müssen, eine eigenartige, nervöse Unruhe und klangliche Instabilität, die sich durch den gesamten zweiten Satz zog; dies mit der äußerst eigentümlichen Folge, dass das Publikum, von dieser inneren Unruhe zunehmend erfasst, nach dem zweiten Satz plötzlich zaghaft und fast ratlos applaudierte, als wenn es sich von seiner eigenen Nervosität zu befreien suchte (und keineswegs, weil es die Regel, zwischen den Sätzen nicht zu klatschen, etwa nicht gekannt hätte).

Was dem zweiten Satz so abträglich war, störte beim dritten Satz viel weniger, da Bruckner hier deutliche Tempoveränderungen zwischen den Ideen, bzw. Themen, vorschreibt, die die robuste Materie des Scherzos sogar fördern; eine gewisse Willkür in der Tempowahl ist hier sowohl weniger auffällig, als auch schwerer zu bewerkstelligen, und kann sich nicht so negativ auswirken wie in den beiden vorangegangenen Sätzen.

Das Orchester nahm intuitiv die Möglichkeit wahr, im Verlaufe dieses Satzes wieder zu einer gewissen Solidität zu finden, wenn auch das Versprechen der ersten Takte des ersten Satzes nicht wieder eingelöst werden konnte. Hier sei am Rande empfohlen, zumindest die ersten Holzbläser im forte und fortissimo zu verdoppeln, da das wunderbare Blech das Holz in dieser Lautstärke meist überdeckte, trotz der unfassbar guten Akustik des Musikvereins, die großen Ton und Transparenz im Klang gleichermaßen begünstigt – es fällt wahrhaftig schwer, dort zu sitzen und nicht zu glauben, dass es irgendwo auf der Welt eine bessere Akustik geben könnte.

Der letzte Satz verging dann, wie es nach dem Verlauf der ersten drei Sätze zu erwarten war: der Beginn mit den Zitaten der vorigen Sätze wurde schnell abgehandelt, die Klarinette warf lustvoll und etwas zu keck (es ist eben noch kein Mahler) das zukünftige Hauptmotiv des Finales ein, das sich dann mehr oder weniger, aber immer kraftvoll artikuliert, entfaltete.

Der vorherrschende Kontrapunkt des Satzes ist in einer heilsamen Weise bestimmend, da er sui generis keine zu schnellen Tempi zulässt und deutlich ausformuliert sein möchte. Gleichwohl fand die große Form des Satzes nicht mehr statt, der große Faden war längst gerissen und verloren, es blieb beim Klein-Klein, bis sich am Ende in der Choral-Coda alles doch glücklich miteinander versöhnte.

Das Publikum spendete beherzten und anhaltenden Beifall, denn es hatte das Glück, ein an sich wunderbares Bruckner-Orchester mit einem hervorragenden Dirigenten, der eine absolute Zierde für die Profession und unbedingt ein Vorbild für die nachwachsende dirigentische Generation ist, zu erleben, dessen Ausführung gleichwohl von obsoleten Traditionen und einer diesen innewohnenden, ganz unangebrachten Angst, das Ende der Symphonie nicht zu erreichen, geprägt war.

Es sind eben doch keine symphonischen Riesenschlangen, und auch keine symphonisch-oberösterreichischen Hügellandschaften, sondern lediglich große, sehr große Symphonien, die dem Gedanken der persönlichen Interpretation, dem Gedanken, der Interpret sei frei und solle oder könne etwas mit einem Stück „machen“, klare Grenzen setzen. Das war an diesem Abend zu lernen, und das ist schon einmal eine Erkenntnis für das Brucknerjahr, die Hoffnung für die Zukunft der Bruckner-Praxis weckt.

Ein Wunsch für das laufende Bruckner-Jahr wäre, dass sich die Aufführenden immer neu mit den Partituren und den diesen innewohnenden Gesetzlichkeiten auseinandersetzen und diese umzusetzen versuchen, und gerne daran scheitern, ohne sich in einfache Antworten oder Routine zu retten. Diesmal hat uns Bruckner geprüft, und es hat noch nicht ganz gereicht.

[Jacques W. Gebest, März 2024]

Musik entfaltet endlich wieder ihren Sinn: Beth Levin mit der Erstaufführung von Heinz Tiessens Opus 21 nach über 100 Jahren

Am 12. März 2024 spielte Beth Levin in der Schwartz’schen Villa in Berlin Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate a-moll KV 310, die lange verschollenen Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen und Franz Schuberts Klaviersonate G-Dur D 894 (op. 78).

Große (=bedeutende) Dinge können im kleinen Rahmen geschehen, ganz so, wie fortwährend kleine (=unbedeutende) Dinge im großen Rahmen ausgerichtet werden. Und das, wie alles andere auch, sagen wir nicht, wie der smarte Gesinnungsdemagoge Hebestreit, „unter uns“, sondern ganz grundsätzlich für alle. Es braucht den Mut zur unabhängigen Entscheidung, und nur, wer hier riskiert, kann das Unerwartete entfesseln.

So geschehen am Abend des 12. März im Salon der Schwartz’schen Villa in Berlin-Steglitz. Die längst legendäre US-amerikanische Pianistin Beth Levin, die freilich unter dem Radar der etablierten Konzerthäuser segelt, da sie eine allzu singuläre Individualität verkörpert, begann ihre kleine Tournee durch die deutschsprachigen Lande mit einem so eigentümlichen wie – rein musikalisch, nicht feuilletonistisch plakativ – schlüssigen Programm, das so viele Menschen anlockte, dass der wahrscheinlich selbst überraschte Veranstalter – das Kulturamt Steglitz-Zehlendorf – „full house“ vermelden durfte. Beth Levin spielte drei gewichtige Werke, zwei davon absolutes Kernrepertoire der Szene, eines absolut unbekannt: Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate in a-moll KV 310 (seine dramatischste, dunkelste Sonate) von 1778 zu Beginn, Franz Schuberts viertletzte Klaviersonate in G-Dur D 894 (op. 78 von 1826) mit ihren drei Pianissimo-Schlüssen zum Schluss. Dazwischen: die fünf Klavierstücke op. 21, komponiert spätestens 1915, von Heinz Tiessen (1887–1971). Zu letzterem Werk gab es einleitend eine aufschlussreiche Einführung, aus welcher hervorging, welch seltsames Schicksal dieses Werk erfuhr. Die fünf Stücke wurden 1915 von Eduard Erdmann (1896–1958), dem ersten ganz großen Schüler Tiessens und herausragenden deutsch-baltischen Pianisten und Komponisten des 20. Jahrhunderts, uraufgeführt und in der Folge noch mehrfach gespielt. Dann jedoch sind diese fünf Stücke entweder verloren gegangen oder Tiessen hat sie – als Gesamtheit höchst gelungener Einzelstücke maximal unwahrscheinlich – zurückgezogen; und Tiessen hat die so entstandene Lücke in seinem Werkverzeichnis später geschlossen, indem er die Opuszahl 21 an die Orchestration eines Rondos vergab. Mehr als ein Jahrhundert war es still geworden um das Werk, das auch in der einschlägigen Literatur keinerlei Erwähnung mehr fand, bis vor vielleicht drei Jahren der Privatgelehrte, Musikforscher und Herausgeber Tobias Bröker aus dem idyllisch entlegenen Botnang bei Stuttgart ein Tiessen-Konvolut aus dem Nachlass der einst berühmten Sopranistin Maria Schulz-Birch ersteigerte und völlig überrascht das Autograph des verschollenen Werkes in Händen hielt. Wie dies sein so gänzlich unkonventioneller wie altruistischer Brauch seit Beginn seiner verlegerischen Tätigkeit ist, setzte Bröker die Noten im MuseScore-Programm und stellte sie auf seiner im Sinne des Wortes wundervollen Website zum kostenlosen Download ins Netz. So also gelangte Beth Levin, die es stets liebte, avanciert Unbekanntes und bewährt Bekanntes in lebendigem Kontrast miteinander zu präsentieren, an diese Noten und machte sie – wie nun in Berlin zu hören – sich ganz zu eigen. Sie spielte am 12. März die erste Aufführung seit mehr als hundert Jahren, also die Premiere der neuen Epoche, von der noch kaum einer ahnt, wohin sie die Menschheit führen wird.

Die für den Leser wichtigste Nachricht ist, dass Beth Levins Berliner Mozart-Tiessen-Schubert-Programm im kommenden Jahr auch auf CD erscheinen soll (bei Aldilà Records). Und daher darf ich mich ganz legitim bei der Beschreibung der so komplexen wie erlebnismäßig unmittelbar zugänglichen, unbedingt eigenartigen Musik auf’s Minimum beschränken. Tiessens Musik der 1910er Jahre steht – ähnlich wie die des befreundeten, so früh im Krieg gefallenen Rudi Stephan – zwischen nachromantischer Tradition und expressionistischer Moderne, spiegelt einerseits die düsterer Imagination anheimgestellte Aufbruchsstimmung ins unbekannte Land der dissonanzfreudigen freien Tonalität mit ihrer linear-kontrapunktischen Kraft (bei Tiessen auf der faszinierenden Basis einer unglaublich virtuosen Beherrschung des harmonischen Raums, wo selbst in entferntesten Bereichen nie der bewusste Zusammenhang verloren geht), andererseits die subtile Formbalance der großen Meister seit Beginn der abendländischen Polyphonie – ein großer Komponist, den nur die nicht verstanden bzw. verstehen, die sehr eingeschränkten Überzeugungen dessen auf den Leim gegangen sind, was die zwanghaft verknüpfende Idee von einseitig wahrgenommenem Fortschritt (sogenannte Atonalität) und damit verbundener, scheinbarerer Signifikanz betrifft. Das wird, je weiter die Zeit voranschreitet und Verschollenes, Verdrängtes ans Licht kommt, immer peinlicher und enttarnt sich zusehends als der eigentliche Anachronismus einer momentan in rasantem Untergang befindlichen Epoche vermeintlicher ästhetischer Gewissheiten, die in Wirklichkeit nur das prätentiöse Nachgeplapper von nassforschen Autoritäten mit entlarvend geringer Halbwertszeit sind (Leser ratet, wen ich meine!).

Beth Levins hat Tiessens Musik zwischen zeitgleichem Schönberg und etwas früherem Strauss, zwischen Skriabin/Busoni und Berg/Bartók in zugleich atemberaubend expressiver, lyrisch verinnerlichter, orchestral gewaltiger, gesanglich hypnotischer Weise dargeboten und das Publikum in einen geradezu verzauberten Zustand transformiert. Auch ist sie eine erstaunliche Meisterin architektonisch schlüssiger Gestaltung, was man bei der explosiven Spontaneität ihrer Gestaltung vielleicht gar nicht erwarten würde. In der Schwartz’schen Villa wurde an diesem Abend wahrhaft Musikgeschichte geschrieben, indem endlich in vollendeter Darbietung zu seinem Recht kommt, was man aus Unkenntnis und Bequemlichkeit so lange marginalisiert hatte. Und dies in des längst verschiedenen Komponisten unmittelbarer Nachbarschaft, hatte der in Königsberg geborene doch im benachbarten Zehlendorf gewirkt, wo der überragende Dirigent Sergiu Celibidache im II. großen Krieg zu seinen Kompositionsschülern zählte (von Tiessens Lehre sollte auch die von Celibidache begründete, disziplinübergreifend bahnbrechende phänomenologische Methode der Musik ihren Ausgang nehmen).

Vor Tiessen Mozart, ein individuell hinreißender symphonischer Kraftstrom herrlich entschiedener Ausdifferenziertheit, den Tagesmoden so fernstehend wie den ‚alten Zöpfen‘. Großartig, als wäre es zum ersten Mal. Und ebenso Schubert, der sich so logisch und suggestiv zündend entfalten durfte, so unvergleichlich frisch und zeitlos, dass man sich möglicherweise hinterher fragen mochte, was denn dieser ganze Blödsinn mit den etablierten Aufführungstraditionen überhaupt soll. Beth Levin hat sie alle über den Haufen gestoßen, außer Kraft gesetzt, indem sie mit singulärer Natürlichkeit, Intensität, Bewusstheit und Kunst unmittelbar zum schöpferischen Kern einer Musik vorgedrungen ist, die heute oft gewaltsam entstellt wird, nachdem man sie lange viel zu wenig gewürdigt hatte. Und sie hat alle Anwesenden auf eine Reise mitgenommen, die treffend als unvergesslich bezeichnet werden kann. So beginnt Musik wieder, ihren Sinn zu erfüllen, und nicht für Ideologien missbraucht zu werden, wie dies in Deutschland vor allem seit dem Dritten Reich der Fall war.

[Sara Blatt, 14. März 2024]

Anmerkung der Redaktion: Tobias Brökers Edition der Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen findet sich auf dieser Seite.

Claudio Santoros Orchesterwerke der 1960er bergen Erstaunliches

Naxos 8.574410; EAN: 7 47313 44107 5

In der dritten Folge der entstehenden Gesamtaufnahme der Symphonien Claudio Santoros (1919–1989) widmet sich das Goiás Philharmonic Orchestra unter Neil Thomson endlich der Phase des brasilianischen Komponisten während der 1960er Jahre, wo er sich mit der europäischen Avantgarde auseinandersetzt. Neben der 8. Symphonie hören wir noch die Três Abstrações, die Interações Assintóticas sowie das während der Errichtung der Berliner Mauer in Ost-Berlin entstandene Cellokonzert mit der Solistin Marina Martins. Das als Zugabe konzipierte One Minute Play schließlich dauert tatsächlich nicht länger als der Titel nahelegt.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás unter seinem britischen Chef Neil Thomson hatte sich in der ersten Folge der Symphonik Claudio Santoros (dort findet der Leser auch nähere Infos zum Werdegang des Komponisten) mit seiner quasi nationalistischen Schaffensphase befasst, auf der zweiten CD dann Beispiele des Spätwerks vorgestellt. Nun folgen auf der dritten Veröffentlichung konsequenterweise Stücke aus den 1960er Jahren, wo Santoro – konfrontiert mit den verschiedenen Strömungen der damaligen europäischen Avantgarde – wieder höchst eigenwillig und mit beeindruckenden Ergebnissen seinen persönlichen Weg findet.

Den Sommer 1961 verbrachte Santoro auf Einladung des Komponistenverbandes der DDR in Ost-Berlin, wo er ganz unmittelbar die unruhigen Zeiten während des Mauerbaus erlebte. Diese Eindrücke gingen offenkundig ins Cellokonzert mit ein, das im August begonnen und im Oktober vollendet wurde. Das gut halbstündige Werk ist das symphonischste aller Konzerte Santoros und verlangt von Solisten, die sich daran wagen, technisch wie emotional alles ab. Die brasilianische Cellistin Marina Martins kann hier völlig überzeugen: engagiert und spannungsvoll, ohne je zu überdrehen oder auch nur eine Sekunde zu langweilen. Wenn das Cello im gewaltigen, insgesamt jedoch verhaltenen Kopfsatz erst nach gut 5½ Minuten eintritt, gilt es, sofort die ungeheure Entwicklung der langen Solokadenz nachzuvollziehen. Danach wird es deutlich dramatischer, später im langsamen 2. Satz noch desolater. Erst im Finale bewegt sich das Stück in zunächst gewohnt konzertanten Gefilden, endet jedoch pessimistisch: tief berührend, vielleicht nicht ganz so genial wie Dutilleux‘ Tout un monde lointain…, zumindest auf ähnlich hohem Niveau. Warum gab’s da bisher keine Aufnahme?

Die 8. Symphonie von 1963 hat mit ihrer inhärenten Zwölftönigkeit – nicht durch äußerlich vorgegebene Reihen – einen Sonderstatus innerhalb Santoros Symphonik, auch weil erst wieder knapp 20 Jahre später die nächsten Gattungsbeiträge folgen. Das nur 15-minütige Stück erweist sich als hochexpressionistisch und integriert im Mittelsatz überraschend eine Mezzosopran-Vokalise – hier von Denise de Freitas ausdrucksvoll dargeboten. Nachdem die Militärjunta den Komponisten 1966 quasi aus der Heimat vertrieben hatte, führte ihn ein DAAD-Stipendium wieder nach Deutschland, diesmal in den Westen. Dort setzte er sich intensiv mit den aktuellen Avantgarde-Strömungen auseinander, nachdem seine frühe Begegnung mit der Schönbergschen Zwölftontechnik über Hans-Joachim Koellreutter eher in Ablehnung gemündet war. Die Três Abstrações (nur für Streicher, 1966) und die Interações Assintóticas (Paris, 1969) sind so lediglich unterschwellig vom Serialismus geprägt: Erstere experimentieren mehr mit Clustern, Glissandi und unkonventionellen Spieltechniken, letztere – erst 1976 in Bonn uraufgeführt – mit Vierteltönigkeit und Aleatorik – für den Rezensenten doch die interessantesten Entdeckungen. Manches mag hier an Penderecki oder Ligeti erinnern, ist aber durchaus originell. One Minute Play (1967), von vornherein als kurzes Zugabenstück gedacht, ist ein witziges moto perpetuo mit achtstimmigem Fugato.

Nun schon erwartungsgemäß gelingt dem – ich kann es nicht oft genug wiederholen – Weltklasse-Orchester aus der Zwei-Millionenstadt Goiânia wieder eine positive Überraschung nach der anderen. Neil Thomson weiß mit diesen – bis auf Interações Assintóticas – Ersteinspielungen völlig zu begeistern, was freilich nicht zuletzt am höchst abwechslungsreichen Repertoire liegt, dessen spezifische Anforderungen der Dirigent punktgenau umzusetzen versteht. Das musikalische und aufnahmetechnische Niveau sowie die immer höchst informativen Booklets der Naxos-Serie The Music of Brazil führen auch diesmal zu einer ausdrücklichen Empfehlung.

[Martin Blaumeiser, März 2023]

Zum 75. Geburtstag: Kalevi Ahos Symphonie Nr. 18 uraufgeführt

Am 9. März 2024 vollendete Kalevi Aho sein 75. Lebensjahr. Wie könnte man das Jubiläum eines großen Symphonikers besser begehen als mit der Uraufführung seiner neuesten Symphonie? Als Aho vor genau einem Jahr anlässlich eines Konzerts zu Ehren seines 74. Geburtstags in Wien weilte, hatte er gerade den Kopfsatz seiner Symphonie Nr. 18 vollendet. Die Komposition war von der Saimaa Sinfonietta in Auftrag gegeben worden und wurde im finnischen Mikkeli am 8. Februar 2024 durch dieses Orchester unter der Leitung von Erkki Lasonpalo uraufgeführt. Das Konzert, in welchem Ahos Symphonie auf Beethovens Drittes Klavierkonzert (Solist: Olli Mustonen) folgte, wurde am Geburtstag des Komponisten von yle Radio 1 gesendet.

Ahos Achtzehnte Symphonie ist eine viersätzige Komposition von knapp 40 Minuten Spieldauer. Wie angesichts ihrer Vorgängerwerke nicht anders zu erwarten, spricht auch hier aus jedem Takt der virtuose Beherrscher des großen Orchesters. Feinheiten wie die aufhellende Beimischung eines Harfentons in den Oboenseufzer, der den ersten Satz abschließt, zeugen von Ahos Fertigkeit in der Modellierung von Klangfarben. Er ist ein Komponist, der nicht einfach nur instrumentiert, sondern wirklich orchestral denkt. Kontraste zwischen verschiedenen Orchestergruppen, aber auch zwischen hohen und tiefen Registern, prägen das Werk entscheidend. Der Verlauf, den die Musik nimmt, hängt eng mit der klanglichen Gestaltung zusammen.

Der mäßig bewegte erste und der langsame zweite Satz unterscheiden sich zwar charakterlich deutlich voneinander, entwickeln sich jedoch auf sehr ähnliche Weise. Zu Beginn werden jeweils scharfe Kontraste in den Raum gestellt, aus denen dann ein Dialog entsteht. Der Anfang des Kopfsatzes wird durchweg von martialischen Schlagzeugrhythmen grundiert, über denen Blechbläserakkorde und wellenartige Violinfiguren zu hören sind. Daraufhin erklingen die verhaltenen Rufe einzelner Holzbläser über Streichertremoli. Im zweiten Satz entsteht der Dialog weniger aus der schroffen Gegenüberstellung der Orchestergruppen als aus Registerwechseln: Die Musik beginnt in schimmernder Helligkeit ganz hoher Bläser und Violinen, denen tiefere Instrumente antworten. In beiden Sätzen entwickelt sich aus den Dialogen eine große Steigerung, die das ganze Orchester erfasst. Der zweite Satz verwandelt sich in eine Art Prozession, eingetaktet durch allmählich rascher werdende Paukenschläge. Nach dem Höhepunkt löst sich die Musik in Fragmente auf. Der Kopfsatz endet mit einem Seufzer, der langsame Satz fragend mit einem tiefen Streicherchoral.

Der dritte Satz lässt sich unschwer als das Scherzo dieser Symphonie erkennen. Die Gestaltungsweise der beiden ersten Sätze stellt Aho hier gewissermaßen auf den Kopf: Statt der Dialoge, die sich zu einem komplexeren Geschehen ausweiten, begegnet hier anfangs ein Durcheinander, in dem die verschiedenen Sektionen des Orchesters gleichzeitig das Wort ergreifen. Alle beharren auf ihrem Reden, ohne den übrigen Gehör zu schenken. Es entsteht eine fluktuierende Klangfläche aus rhythmisch verschiedenen Schichten, aus welcher teils die eine, teils die andere Gruppe heraussticht. Im Verlauf des Satzes klärt sich das Gewirr immer mehr auf, doch kehrt der Schlussteil zur Stimmung des Anfangs zurück.

Die Symphonie schließt mit einem lebhaften Finale, das wieder einen Verlauf analog dem ersten und zweiten Satz nimmt. Dem von knappen, vorübereilenden Motiven und grellen Effekten geprägten Anfang steht eine breite Melodie des Fagotts gegenüber, die sich über wogender Holzbläser- und Streicherbegleitung entfaltet. Sie wird später vom Blech aufgenommen und zum Höhepunkt geführt. Nach wuchtigem Schlagwerkeinsatz löst sich auch dieser Satz in seine Einzelteile auf. Ein dissonanter Tutti-Akkord verklingt im Decrescendo und ein Flötentriller mit Triangelschlag markiert das Ende.

Das Werk ist keine schwere, keine tragische Musik. Bei allem Ernst in der Grundhaltung hat sich Kalevi Aho eine spielerische Leichtigkeit bewahrt, die als Freude an brillanten Effekten auch in der Achtzehnten Symphonie durchaus spürbar ist. Im Großen und Ganzen wirkt das Stück sehr einheitlich, wie aus einem Guss. Keiner der Sätze fällt gegenüber den anderen ab. Nirgendwo zieht sich das Geschehen unangenehm in die Länge. Aho zeigt sich ein weiteres Mal als mit sicherer Hand gestaltender Symphoniker, der es meisterlich versteht, Spannung aufzubauen und große Formen zu schaffen. Man kann ihm nur wünschen, dass ihm die Kraft, über die er heute als 75-Jähriger verfügt, noch lange erhalten bleibt. Möge sie sich noch in vielen weiteren Meisterwerken manifestieren!

[Norbert Florian Schuck, März 2024]